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«Der 11. September ist fest im Kopf»

Muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, werden noch immer mit Befremden wahrgenommen. Keystone Archive

Die Muslime in der Schweiz haben seit dem 11. September kaum offene Aggression erlebt. Dem Islam wird aber direkter als zuvor mit Misstrauen begegnet.

Die Muslime werden von der Bevölkerung allgemein als homogene Masse wahrgenommen.

«Seit dem 11. September wird mehr als früher über Muslime und den Islam gesprochen. Dem Islam als Religion wurde die Schuld für die Anschläge zugeschoben. Ich habe mehr Misstrauen von Kollegen gespürt», sagt der Palästinenser Atef Thürlemann Salim aus Horgen im Kanton Zürich.

Die Vorurteile hätten aber schon vorher bestanden. Jetzt werde die Skepsis über den Islam direkter und offener ausgesprochen. Jedenfalls sei er seither vorsichtiger geworden, so Atef Thürlemann Salim.

«Über vieles, zum Beispiel den Nahost-Konflikt, rede ich nicht mehr so offen. Man gilt schnell als Fundamentalist. Bei allen ist der 11. September fest im Kopf.»

Stigmatisierung des Islam

Tariq Ramadan, Professor für Islamwissenschaften in Freiburg, hat nach dem 11. September eine Stigmatisierung des Islam festgestellt. Es habe Verdächtigungen, Befragungen und eine zunehmende Überwachung gegeben. Muslime seien davon mehr betroffen gewesen als andere Personen.

«Ich weiss auch von Menschen, für die es schwieriger wurde, zum Beispiel bei der Arbeitssuche. Aber auch für Frauen, die ihr traditionelles Kopftuch tragen.»

Für Amin Ismail, Präsident der Stiftung Islamische Gemeinschaft in Zürich, hat sich für die Muslime in der Schweiz wenig geändert seit den verheerenden Anschlägen in den USA.»Wir sind in einer besseren Lage als Muslime in Deutschland oder den USA.»

Zeynep Yerdelen, Lehrerin und Grossrätin aus Basel, die sich ausdrücklich als religionslos bezeichnet, findet es schade, dass sich muslimische Menschen nun für vieles rechtfertigen müssten:

«Ich finde es schlimm, dass man ein heiliges Buch rechtfertigen muss. Das ist unfair.» Nach den Anschlägen habe es unter ihren Schülern teils «heavy Sprüche» gegeben, die zu Konflikten führten. Auch seien Witze gemacht worden.

Keine homogene Masse

In der Schweiz leben 310’000 Musliminnen und Muslime aus über 50 Ländern. Nach den Protestanten und Katholiken stellen sie die drittgrösste Glaubensgruppe.

Unter diesen Umständen sei es unmöglich, keine gemeinsame Zukunft zu haben, mahnte Nationalratspräsidentin Liliane Maury Pasquier Mitte August am Kongress der Liga der Muslime der Schweiz (LMS).

Reinhard Schulze, Leiter des Instituts für Islamwissenschaften an der Universität Bern, erklärte in der Zeitschrift «Schweiz global», die islamische Welt sei ebenso heterogen wie diejenige Westeuropas.

«Der arabische Raum und Südosteuropa sind ebenso wenig von finsteren Fundamentalisten bevölkert wie Deutschland in den Siebzigerjahren von RAF-Terroristen.»

Atef Thürlemann Salim weiss, dass es auch in der Schweiz extreme Gruppierungen gibt und auch unter den Muslimen Pauschalurteile über Christen an der Tagesordnung sind. «Da helfen nur Diskussionen und Gespräche, aber bitte mit Anstand.»

Information und Dialog

Um Vorurteilen und Ablehnung entgegenzuwirken und stattdessen die kulturelle Vielfalt der muslimischen Welt zu verstehen, braucht es Kontakte und Anstrengungen auf beiden Seiten.

«Die eine Seite muss lernen, sich zu äussern, die andere sollte mit den muslimischen Gemeinschaften in Kontakt treten», betont Tariq Ramadan gegenüber swissinfo.

Für Amina Winterberg aus Bern, die vor 8 Jahren zum Islam konvertiert ist, braucht es Dialog und Zeit, da Muslime noch nicht seit langem in der Schweiz lebten.

Offene Aggressionen gegen diese Glaubensgruppe seien ihr nicht bekannt, wohl aber komme es im Alltag immer wieder zu Bemerkungen und Beschimpfungen. Zudem würden Frauen, die ein Kopftuch tragen, des öftern mit Argwohn beäugt.

«Die Vorurteile im Westen sind sehr alt. Je besser man den Islam kennt und sieht, dass die Gewalt politisch motiviert ist, desto besser kann man vielleicht verstehen. Das Problem des Nahen Ostens schafft noch härtere Fronten als der 11. September.»

Der Islam am Scheideweg

Zeynep Yerdelen sieht in der jetzigen Situation auch eine Chance: » Der Islam ist als Religion an einem Wendepunkt. Wie damals die Reformation erlebt die islamische Religion eine Reformzeit. Es gibt ja verschiedene Glaubensrichtungen, zum Beispiel auch den Laizismus. Das muss jetzt in die Köpfe rein.»

Viel sei noch zu tun in Sachen Informationsarbeit, betont auch Tariq Ramadan. «Wenn sich die Religions-Fachleute hinter geschlossenen Türen treffen, bringt das nicht viel. Nötig ist der Dialog mit der Bevölkerung, in den Schulen, die Leute müssen sich kennen lernen.» Denn die islamische Welt funktioniere völlig anders als die christliche.

Zum Glück sei in der Schweiz eine friedliche Perspektive möglich, bekräftigt der Professor aus Freiburg gegenüber swissinfo. Massive Kritik übt Ramadan an den reichen Saudi-Prinzen, die in Genf tagtäglich Millionen von Dollars verschleuderten und mit ihrem Protz den Islam in ein schlechtes Licht rückten. «Das ist inakzeptabel.»

Gaby Ochsenbein

In der Schweiz leben 7,28 Mio. Menschen.
310’000 oder 4,27% davon sind Muslime.
Seit 1990 hat sich die Zahl der Muslime verdoppelt.
Gut 35% der Muslime in der Schweiz stammen aus der Türkei.
15% sind Araber.

Die Muslime in der Schweiz sind von direkten Aggressionen nicht betroffen. Sie werden aber immer wieder mit Misstrauen und Skepsis konfrontiert. Die Meinung, dass der Islam eine gewalttätige Religion ist, herrscht in vielen Köpfen.

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