«Der erste Rückzug des Zionismus seit 1948»
Mitte August beginnt Israel mit dem Rückzug aus dem seit 1967 besetzten Gazastreifen. Ein historischer, aber auch ein heikler Schritt.
Yves Besson, Professor an der Universität Freiburg und Nahost-Spezialist, im Gespräch mit swissinfo.
8500 israelische Siedler aus 21 Kolonien im Gazastreifen und aus 4 Kolonien im Westjordanland, werden die seit 1967 vom jüdischen Staat besetzten Gebiete verlassen, um den Palästinensern ihr angestammtes Gebiet zurückzugeben. Bis am 14. August Mitternacht haben die Israelis Zeit, freiwillig auszureisen.
Widerspenstige Siedler wird die israelische Armee ab dem 17. August mit Gewalt evakuieren. Drei Wochen später muss die Tsahal (Tsava Haganah Leisraël – Armee zur Verteidigung Israels) den Abbruch der Siedlungen in Angriff nehmen. Der frühere Leiter der UNO-Mission für die Flüchtlinge in Palästina (UNRWA), Yves Besson, erläutert den historischen Moment.
swissinfo: Was wird sich in den betroffenen Gebieten ihrer Einschätzung nach in den kommenden Tagen abspielen?
Yves Besson: Das ist sehr schwierig zu sagen. Die Palästinenser wissen, dass sie angesichts der internationalen Aufmerksamkeit vor einer heiklen Situation stehen. Sind die israelische Armee und die Siedler einmal abgezogen, muss die Ordnung aufrecht erhalten werden. Das wird schwierig sein.
Besonders die extreme Rechte Israels würde, falls es nach dem Rückzug zu einem Chaos käme, freudig rufen: ‹Sehen Sie, diese Leute sind unfähig zu einer Verständigung, unfähig, sich selbst zu regieren. Sie brauchen uns!› Es gibt Leute, die so denken. Es ist dramatisch, wenn man anhand von Chaos beweisen will, dass die israelische Besetzung keine wirkliche Besetzung war.
Die Evakuierung selber ist eine inner-israelische Angelegenheit. Die Gegner des Rückzugs sind eine recht wichtige Kraft in Israel. Dass sie, abgesehen von einzelnen Personen, Gewalt-Ausschreitungen oder Unruhen in Kauf nähmen, glaube ich nicht. Auf jeden Fall wird alles unternommen, um Bilder der Gewalt zu vermeiden.
Es wird nicht ohne Schreien und Jammern abgehen. Sicher werden sich einige anketten, und die muss man dann vielleicht mit Gewalt abtransportieren. Aber ich denke nicht, dass Schusswaffen eingesetzt werden. Die meisten Siedler haben ihre Waffen gezwungener-massen abgegeben.
Wir dürfen nicht vergessen, dass dies das erste Mal ist, dass Israel sich aus den seit 1967 besetzten Gebieten zurückzieht. Der Rückzug hat grosse Symbolkraft: Zum ersten Mal seit 1948 krebst der Zionismus zurück.
swissinfo: Warum zieht sich Israel zurück?
Y.B.: Der israelischen Führung – ausser der extremen Rechten – war seit 1967 klar, dass Gaza nicht zu halten ist und sie es eines Tages freigegeben muss. Sie können inmitten von eineinhalb Millionen in Armut lebender Palästinenser keine Siedlungen aufstellen und halten.
Wie in einem Kartenspiel war der Gazastreifen für Israel ein Trumpf, den es im günstigsten Moment auszuspielen galt. Vor zwei Jahren entschied sich Scharon, der Moment sei gekommen, da die internationale Gemeinschaft immer stärker auf einen Schritt Israels drängte. Der Rückzug gibt der israelischen Politik etwas Luft, gibt ihr für die nächsten Jahre eine Atempause.
swissinfo: Ist der Rückzug für Israel auch eine Möglichkeit, das ganze Westjordanland oder einen Teil davon zu behalten?
Y.B.: Ja, das ist möglich. Ich glaube sogar, dass ein Minister der Regierung Sharon das vor sieben oder acht Monaten gesagt hat.
swissinfo: Syrien musste unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft den Libanon ganz schnell verlassen, während Israel die besetzten Gebiete trotz der internationalen Verpflichtungen behält. Was sagen Sie dazu?
Y.B.: Das ist das berühmte Messen mit zweierlei Ellen. Das sagen die Araber, und auch die Iraner weisen in der aktuellen Diskussion über die Atomkraft immer wieder darauf hin.
Möglicherweise hielt die israelische Regierung die Bedingungen im regionalen Umfeld für günstig, um sich jetzt zu einem Rückzug und einigen anderen Konzessionen zu entscheiden. Zu den besonderen Bedingungen gehören das Festsitzen der Amerikaner im Irak, der Sieg der Schiiten bei den irakischen Wahlen, die neu geschmiedete Allianz zwischen dem neuen schiitischen Präsidenten Irans und Bashar El Assad in Damaskus, die politische Konstellation im Libanon, wo die Schiiten der Hisbollah äusserst mächtig bleiben, sowie die Gefahr einer schiitischen Atombombe, falls Iran mit deren Herstellung beginnt…
swissinfo: Wie wird der Gazastreifen in naher Zukunft aussehen?
Y.B.: Werden Schiffe in Gaza frei einlaufen können? Nein. Von wem wird die palästinensische Gaza-Küste an der Südgrenze zu Ägypten bewacht? Wird der Flughafen wieder geöffnet? Kann der Kontrollturm dafür sorgen, dass Flugzeuge, frei landen können, wenn der Flughafen von Gaza einmal in Stand gestellt ist? All diese Fragen können heute noch nicht beantwortet werden.
Diese Fragen werden wahrscheinlich zwischen Israel, der palästinensischen Behörde und Ägypten in geheimen Gesprächen diskutiert – es ist gut möglich, dass Ägypten involviert ist, aber dort sagt man das lieber nicht. Ägypten ist neben Jordanien ein Partner, dem Israel notfalls ein wenig vertraut. Kairo wird eine gewisse Rolle spielen, eine Art Garant sein für die Sicherheit Israels auf der ägyptischen Seite Gazas.
Die Zukunft Gazas hängt davon ab, wie viel Freiheit dessen Verwaltung gegen aussen haben wird. Wird es ein souveräner Staat sein? Sicher nicht. Unabhängig? Für welche wirkliche Unabhängigkeit? Darüber wird nicht geschrieben, gar nichts…
Es ist ein grosses Gefängnis, dessen Wärter abziehen. Die Frage ist: Was wird im Innern geschehen?
swissinfo: Und die Rolle der Hamas in all dem?
Y.B.: Das ist ein anderer unsicherer Punkt. Es wird nie Frieden geben, wenn die Hamas nicht irgendwie in den Prozess einbezogen wird. Auch wenn Israel und die USA das nicht wollen.
Wer sind die wahren Feinde Israels? Die Hamas! Man verhandelt mit seinem Feind, nicht mit seinen Freunden oder der Hälfte der Feinde.
Interview swissinfo: Pierre-François Besson
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)
Ab dem 17. August wird Israels Armee jene der 8500 Siedler gewaltsam abtransportieren, die nicht freiwillig abgezogen sind.
25 Siedlungen werden verschwinden – 21 im Gazastreifen und vier im Westjordanland.
Der Rückzug wurde von Regierung und Parlament in Israel gut geheissen.
Er löste aber unter den Siedlern, in der extremen Rechten und bei fast einem Drittel der Abgeordneten des Likud, der Partei des Ministerpräsidenten, erbitterten Widerstand aus.
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