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Die berauschen­de Geschich­te des Homo alcoholicus

Menschen an einem Tisch mit Wein
Der Konsum von Alkohol wird oft mit Geselligkeit gleichgesetzt. Foto aus einem Familienalbum. 1960er-Jahre. Schweizerisches Nationalmuseum

Seit jeher begleitet der Alkohol den Menschen: als Genuss- und Suchtmittel, aber auch als hygienische Alternative zu Wasser oder als Mittel gegen Darmwürmer. Eine kleine Kulturgeschichte eines alltäglichen Gifts.

SWI swissinfo.ch veröffentlicht regelmässig Artikel aus dem Blog des Schweizerischen NationalmuseumsExterner Link, die historischen Themen gewidmet sind. Diese Artikel sind immer auf Deutsch und in der Regel auch auf Französisch und Englisch verfügbar.

Die Germanen sollen über jede Angelegenheit zweimal beraten haben – einmal in angetrunkenem und einmal in nüchternem Zustand. Erst wenn ein Vorschlag in beiden Sitzungen angenommen worden war, hatte er Gültigkeit.

Glaubt man diesen Ausführungen des römischen Historikers Tacitus um ca. 100 n. Chr., dann waren alkoholische Getränke ein elementarer Bestandteil des germanischen Lebens. Tatsächlich gehörten gerade Bier und Wein über Jahrhunderte hinweg zu den Grundnahrungsmitteln vieler Kulturen der westlichen Welt.

Doch die Geschichte reicht wohl viel weiter zurück. Schon unsere affenartigen Vorfahren sollen laut Forschung mit Alkohol in Kontakt gekommen sein. Sowohl der Geschmack wie auch der Geruch dieser chemischen Verbindung aktivieren im Gehirn eine Region, die ein Hungergefühl auslöst.

Reife Früchte enthalten mehr Zucker, sind also energiereicher und setzen flüchtige Substanzen frei, unter anderem Ethanol. Dieses sollen unsere Vorfahren über weite Distanzen hinweg gerochen haben.

Mark Forsyth beschreibt in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Trunkenheit die These, wie sich unsere Vorfahren vor zehn Millionen Jahren zuhauf überreife Früchte einverleibt hätten. Durch eine Genmutation, die sich just zu dieser Zeit vollzog, war auch das Problem des Alkoholabbaus im Körper gelöst.

Radierung
Destillation von Alkohol [?] am offenen Feuer an einem Landweg. Radierung von Johann Balthasar (der Ältere) Bullinger, 18. Jahrhundert. Eth-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung / D 32444 / Public Domain Mark 1.0

Hygieni­sches Getränk und Stärkungsmittel

Als der Mensch im Neolithikum sesshaft wurde und anfing, Ackerbau zu betreiben, begannen verschiedene Kulturen, systematisch alkoholische Getränke herzustellen.

Weinsäure hinterlässt in Gefässen deutliche Spuren, weshalb die Archäologie das Vorkommen von Alkoholika mit grosser Sicherheit nachweisen kann: In China datiert man die ersten Funde auf etwa 7000 v. Chr., Spuren im Iran und im Mittelmeerraum auf wenig später.

Gleichzeitig offenbaren zahlreiche Darstellungen auf Statuetten und Malereien, dass Bier und Wein bereits Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung in Mesopotamien, Assyrien, Babylonien und Kreta alltägliche Genuss- und Nahrungsmittel waren – ja richtig, Nahrungsmittel!

In Ägypten beispielsweise stand beim Bier lange der Nährwert im Vordergrund, da es Vitamine und Spurenelemente enthält. Zudem war es oft weniger keimbelastet als herkömmliches Trinkwasser, was Bier über Jahrhunderte hinweg zu einem willkommenen Durstlöscher machte.

Im elften Jahrhundert schrieb der angelsächsische Abt Ælfric, er trinke «Bier, wenn ich es habe, und Wasser, wenn ich kein Bier habe».

Zeichnung, ein Mann rührt mit einem Stock in einem Kessel
Bierbrauer bei der Arbeit, um 1425. Wikimedia

Nebst der Funktion als Durstlöscher benutzten die Menschen Alkoholika auch lange für andere gesundheitliche Belange. So beschrieb der katalanische Arzt Arnau de Villanova im 13. Jahrhundert, wie Alkohol helfe, Darmwürmer zu bekämpfen oder Seekrankheit vorzubeugen.

Bis ins 20. Jahrhundert empfahl die westliche Medizin den Konsum von Bier bestimmten Personengruppen. So hielt der schwedische Forscher Carl von Linné 1784 fest, Bier bekomme demjenigen gut, «der eher mager und ausgetrocknet ist, sowie Schwerstarbeitenden, wenn sie durchhalten sollten».

Bis vor etwa 100 Jahren war Alkohol zudem die einzige schmerzlindernde und betäubende Substanz in der Medizin und ein wirksames Antiseptikum.

Ein Mann trinkt ein Glas Wein.
Lange galt Alkohol als gesundheitsfördernd. Ein Mann trinkt Wein, um 1964. Schweizerisches Nationalmuseum

Spirituo­sen als Lebenswasser

Doch insbesondere die berauschende Wirkung des Alkohols hatte es den Menschen angetan. Um diesen Zustand zu erreichen waren Spirituosen, also hochprozentige alkoholische Getränke, speziell gut geeignet. Deren Herstellung setzte aber zunächst die Erfindung des Destillierverfahrens voraus.

Eingeführt haben dieses sehr wahrscheinlich nordafrikanisch-arabische Chemiker im 10. Jahrhundert. Ab wann genau diese Produktionsweise in Europa bekannt und angewandt wurde, ist schwer zu ermitteln; destillierter Alkohol wurde jedenfalls ab dem 15. Jahrhundert in medizinischen oder alchemistischen Büchern erwähnt.

In Westeuropa stellten im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte emsige Destillateurinnen und Destillateure allerlei Spirituosen, auch aqua vitae, also Lebenswasser, genannt, her – Whisky, Gin, Brandy und so weiter.

Im London des frühen 18. Jahrhunderts spielte sich folglich ein gesellschaftliches Drama ab: Schuld daran war der Gin. Dieser wurde laut einem Artikel des London Magazine «in fast jedem Haus irgendwo verkauft, meist im Keller».

Er war sehr hochprozentig – bis zu 80 Volumenprozent Alkohol soll er enthalten haben – und billig, da er steuer- und lizenzfrei produzierbar war. Besonders beliebt war der Gin daher bei der armen Bevölkerung, die auch mit Terpentin und Schwefelsäure gepanschte Gins trank.

Der hohe Gin-Konsum hatte katastrophale Auswirkungen. Zwischenzeitlich überstieg die durch Alkoholmissbrauch bedingte Sterberate in Grossbritannien die Geburtenrate.

Die Regierung versuchte mit mehreren Gesetzen – unter anderem wurden Schanklizenzen eingeführt – verzweifelt, den Konsum zu senken. Eine Reihe von Getreidemissernten in den 1750er-Jahren tat ihr Übriges und die elende Phase, welche bald als «Gin-Epidemie» in die Geschichtsbücher eingehen würde, ebbte ab.

Druck, berauschte Menschen, torkeln, im Vordergrund lässt jemand, auf einer Trppe sitzen, ein Kleinkind fallen
Der Druck von William Hogarth zeigt die Folgen des Ginkonsums, um 1750. Wikimedia

Im Gebiet der heutigen Schweiz hielt sich der Schnapskonsum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Grenzen. Erst, als die Kartoffel Einzug in die hiesige Landwirtschaft hielt, wendete sich das Blatt.

Aus der Knolle liess sich wunderbar ein Branntwein, der «Hardöpfeler», herstellen. Viele Kleinbauern und Heimwerkerfamilien, die durch die Fabrikindustrialisierung an den Rand des Ruins getrieben worden waren, sahen im Brennen von Kartoffelschnaps eine Überlebenschance.

Damit stieg auch der Konsum, sowohl unter den Bäuerinnen und Bauern wie auch der Fabrikarbeiterschaft, für welche der Branntwein ein effektives Mittel war, um sich nach einem langen Arbeitstag in der Lohnarbeit in einen anderen Geisteszustand zu versetzen.

Der Schweizer Historiker Jakob Tanner schreibt dazu: «Der Rausch war das ‚Andere’, er war ein Sich-Lösen, ein Versinken und Verschwinden.»

Ein Bauer offeriert dem Pöstler einen Schnaps bei der Postübergabe, 1952.
Ein Bauer offeriert dem Pöstler einen Schnaps bei der Postübergabe, 1952. (C) Schweizerisches Nationalmuseum / Asl

Das Problem Alkohol

Alkoholkonsum bleibt bekanntlich nicht ohne Folgen. Das stellten gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch mehrere Mediziner in Schottland, Deutschland und den USA fest, die in ihren Schriften die Konzepte «Sucht» und «Alkoholabhängigkeit» etablierten und von übermässigem Trinken abrieten.

In der Schweiz war der Genfer Arzt Ernest Naville 1841 einer der ersten, der die Trunksucht untersuchte und für die er eine Vielzahl an Ursachen aufführte: Beispielsweise die billige Verfügbarkeit des Alkohols, eine Kultur der «Freizügigkeit und Trunkenheit» im Militärdienst oder prekäre Wohnsituationen.

Nach amerikanischem Vorbild entstand auch in der Schweiz eine Mässigungs- und Abstinenzbewegung. Der Genfer Pfarrer Louis-Lucien Rochat gründete 1877 das Blaue Kreuz, um Süchtigen zu helfen.

Auch auf Bundesebene erkannte man Handlungsbedarf in der «Alkoholfrage»: In der Mitte der 1880er-Jahre führte der Bund ein staatliches Alkoholmonopol und eine Alkoholsteuer ein, Massnahmen, die offenbar Früchte trugen: Spätestens in den 1930er-Jahren galt die Zeit des «Elendsalkoholismus» in der Schweiz als beendet – getrunken wurde aber nach wie vor.

düsteres Plakat
Entwurf für ein Plakat der Drogenprävention Schweiz von Burkhard Mangold. Schweizerisches Nationalmuseum

Heute trinken laut der Stiftung Sucht Schweiz rund 85 Prozent der über 15-jährigen Schweizerinnen und Schweizer regelmässig Alkohol.

Fast neun Prozent von ihnen trinken täglich, schätzungsweise 250’000 sind alkoholabhängig (können also nicht oder nur schwer auf Alkohol verzichten).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mahnt in einer neueren Studie, dass es keine gesundheitlich unbedenkliche Menge an Alkoholkonsum gebe, heisst: Risiko bestehe ab dem ersten Schluck.

Ob als Durstlöscher, Arzneimittel oder Seelentröster– seit Urzeiten begleitet der Alkohol den Menschen. So schnell wird er daher auch nicht verschwinden.

Isabelle Hausmann studiert Geschichte und arbeitet als Redakteurin für den Blog des Schweizerischen Nationalmuseums.

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