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Die Bieler Saisonnier-Baracken als Denkmal gegen das Vergessen

Die Bieler Bevölkerung wusste nicht, wer in diesen Baracken lebte und unter welchen Bedingungen, da der Zutritt für Aussenstehende verboten war.
Die Bieler Bevölkerung wusste nicht, wer in diesen Baracken lebte und unter welchen Bedingungen, da der Zutritt für Aussenstehende verboten war. Lucas Dubuis

In Biel ist ein seltenes Zeugnis eines dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte erhalten geblieben. Eine Besichtigung.

Jahrzehntelang waren die Schweiz und ihre Wirtschaft auf Saisonarbeiter aus Italien und anderen europäischen Ländern angewiesen. Diese Arbeitskräfte durften maximal neun Monate pro Jahr im Land bleiben.

Häufig lebten sie unter sehr prekären Bedingungen. Dies zeigen die Saisonarbeiterbaracken von Biel. SWI swissinfo.ch hat diese Stätte mit einem Historiker und einem Gewerkschafter besucht.

Wie damals, nur leer

Es sind nur etwa zehn Schritte, um in die Zeiten der 1950er- bis 1960er-Jahre einzutauchen. Die Zimmer sind wie damals, nur leer. Verschwunden sind die einfachen Feldbetten, genauso wie die Schränke mit den Türspiegeln und die Koffer, die auf ihre Rückreise in die Heimat warteten.

Geblieben sind noch die alten Gaskocher, die von vergilbten NZZ-Zeitungen aus dem Jahr 1991 abgedeckt sind, ebenfalls die nummerierten Schränke zur Aufbewahrung von Töpfen, Geschirr und Lebensmitteln; die Haken zum Aufhängen von schweiss- und staubgetränkter Kleidung; ein Waschbecken aus Metall, an dem sich die Arbeiter gewaschen haben, das Geschirr wuschen und die Pasta abschütteten; schliesslich ein Pissoir und eine türkische Stehtoilette.

Und dann ist da noch ein Holzofen, der es nicht schaffte, den Raum zu heizen und das Heimweh zu vertreiben. Es sind alles Überbleibsel eines traurigen Kapitels der Schweizer Geschichte.

Die letzten Zeugnisse

«Rund hundert Saisonarbeiter wohnten in diesen Baracken: Italiener, Spanier, Portugiesen, Türken, Jugoslawen und Griechen», erklärt der Historiker Florian Eitel, Kurator am Neuen Museum Biel.Externer Link Er zeigt uns bei einem Rundgang die alten Baracken am Unteren Quai 30 in Biel, zwischen Bahngleisen und See. In den 1990er-Jahren kaufte der Kanton Bern das Areal für den Bau einer Autobahnumfahrung. «Glücklicherweise wurde das Projekt nie realisiert, so dass die Gebäude bis heute stehen geblieben sind,» so Eitel.

Die Villa der Familie Bührer, erbaut Anfang der 1950er Jahre
Die Villa der Familie Bührer, erbaut Anfang der 1950er-Jahre Lucas Dubuis

Die einfachen Unterkünfte befinden sich vergessen hinter einem Metallzaun nur einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt. Es sind die letzten Zeugnisse aus der Zeit der Saisonarbeiter. An anderen Orten, bei Staudamm- und Tunnelbaustellen oder in städtischen Agglomerationen, sind diese Unterkünfte verschwunden und aus der Geschichte getilgt.

«Diese Baracken gehörten der Baufirma Bührer & Co», so Eitel weiter, «auf der einen Seite haben wir die luxuriöse Villa des Patrons, auf der anderen die Baracken der Arbeiter. Der Kontrast zwischen diesen beiden Welten könnte nicht grösser sein.»

Sehr oft wurden solche Unterkünfte in der Peripherie der Städte gebaut. Zäune schützten vor Neugier und ungewünschter Aufmerksamkeit. Die Arbeiter standen früh auf, wenn es draussen noch dunkel war, gingen zu Fuss zur Baustelle, arbeiteten den ganzen Tag, kehrten abends zurück und blieben dann im umzäunten Gelände.

Der Zugang für Unbefugte war strengstens untersagt. «Es wurde eine Form der sozialen Ausgrenzung praktiziert, unter der Kontrolle des in der Nähe wohnenden Patrons», erklärt Eitel. Er erinnert daran, dass die Saisonarbeiter der Gnade ihrer Arbeitgeber ausgeliefert waren, weil diese über ihre Zukunft in der Schweiz entscheiden konnten, indem ein Vertrag für die nächste Saison verlängert oder verwehrt wurde. 

Die Einhaltung von Respekt, Ruhe und Ordnung ist obligatorisch. Bewohner, die ihre Nachbarn durch Lärm und mangelnde Sauberkeit stören, verlieren das Recht, in der Baracke zu schlafen.

Das Einschalten von Radios ist erlaubt, sofern die Lautstärke leise gehalten wird und alle Mitbewohner damit einverstanden sind.

Die Schlafsäle müssen jeden Morgen aufgeräumt hinterlassen werden, damit eine Kontrolle möglich ist. Kleidung und persönliche Gegenstände müssen in Schränken aufbewahrt werden; schmutzige Wäsche darf nicht herumliegen.

Abfälle müssen in den Mülleimern entsorgt werden.

In den Schlafsälen dürfen keine Essensreste gelagert werden. Küchenabfälle müssen in Eimern mit Deckel entsorgt werden.

Schuhe und Kleidung müssen im Freien gereinigt werden. Es ist verboten, sie in den Zimmern zu putzen.

Es ist verboten, sich mit Arbeitskleidung oder Schuhen auf die Betten zu setzen. Wenn die Bettwäsche ungewöhnlich verschmutzt ist, werden die Reinigungskosten dem Verantwortlichen in Rechnung gestellt.

Wir empfehlen Sauberkeit und Ordnung bei der Benutzung der Toiletten. Spülen Sie sofort nach der Benutzung mit Wasser nach und spülen Sie keine festen Gegenstände in die Abflüsse. Benutzen Sie beim Rauchen Aschenbecher.

Es ist verboten, Kleider auf die Öfen zu legen. Abgelegte Gegenstände werden eingesammelt.

Der Besuch von Personen, die nicht auf der Baustelle arbeiten, ist strengstens untersagt.

Bei Zuwiderhandlung gegen diese Regeln werden den Bewohnern des Zimmers oder der Küche 20 oder 50 Franken abgezogen.

(Quelle: Film „Il rovescio della medaglia“Externer Link von Alvaro Bizzarri, 1974)

Kälte und Nostalgie

Im Erdgeschoss der Baracke befanden sich die Lagerräume, die Garage und die Tischlerwerkstatt der Baufirma; im ersten Stock drei Schlafsäle für je 10 bis 15 Personen, ein Wohnzimmer und eine Küche. Unter dem Dach schliesslich ein zusätzlicher fensterloser Raum. Die zugigen und ungedämmten Holzbaracken verwandelten sich im Winter in einen Kühlschrank und im Sommer in einen Ofen.

«Wenn draussen 20 bis 30 Zentimeter Schnee lagen und das Thermometer weit unter den Nullpunkt sank, standen die Arbeiter durchfroren auf und zogen ihre eisigen Klamotten an», erzählt Mariano Franzin, ein Gewerkschafter, der sich in den 1980er- und 1990er-Jahren bei einem Glas Wein, einer Zigarette und einem Kartenspiel die Beschwerden der Saisonarbeiter anhörte.

Mit dem Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer wurde in der Schweiz 1931 offiziell das Saisonnierstatut eingeführt, das ausländischen – in der Regel männlichen – Arbeitskräften eine maximale Aufenthaltsdauer für eine Saison pro Jahr in der Schweiz ohne Möglichkeit des Familiennachzugs gewährte. Während ihres Aufenthalts konnten die Inhaber einer solchen Bewilligung weder den Arbeitsplatz noch den Wohnsitz wechseln.  

Dieses Gesetz war Teil einer Migrationspolitik, die der Schweizer Wirtschaft eine möglichst grosse Flexibilität garantieren, aber gleichzeitig die Zuwanderung unter Kontrolle halten wollte.

Vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem einsetzenden Wirtschaftsboom explodierte die Zahl der Saisonarbeiter. Im Jahr 1949 wird die maximale Aufenthaltsdauer auf neun Monate erhöht. Zunächst kamen massenhaft Italiener und Italienerinnen, dann in den folgenden Jahrzehnten Menschen aus Spanien, dem ehemaligen Jugoslawien, Portugal und der Türkei.

Während der Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren waren rund 200 000 Saisonniers gezwungen, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Das Saisonnierstatut erfüllte also teilweise die Aufgabe, für die es gedacht war: Flexibilität für die Schweizer Wirtschaft zu gewährleisten. Denn die Arbeitslosigkeit liess sich auf diese Weise exportieren.  

Mit dem Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit im Rahmen der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union wurde das Saisonnierstatu im Jahr 2002 abgeschafft.

Zwischen 1945 und 2002 hat Bern mehr als 6 Millionen Saisonbewilligungen ausgestellt.

«Sie schimpften über die Bedingungen, unter denen sie leben mussten. Sie klagten über den Chef, der ihnen den 13. Monatslohn vorenthielt, oder über ungerechte Lohnabzüge. Sie sprachen über ihr Heimweh, den Mangel an menschlicher Wärme, ihre Kinder und Ehefrauen in der Ferne. Aber sie taten das nie vor dem Chef, und sie wollten nicht einmal, dass die Gewerkschaft eingreift, weil sie immer Angst hatten, keinen Vertrag für die nächste Saison zu erhalten.»

Zwei Toiletten für 100 Arbeiter

Heute lässt sich die Atmosphäre kaum vorstellen, die damals in den Baracken herrschte. Mariano Franzin, Präsident des «Instituts zum Schutz und zur Unterstützung der italienischen Arbeiter» (ItalUilExterner Link), kann sie hingegen gut beschreiben. 1983 begann sein Einsatz und Kampf als Gewerkschafter für die Rechte der Arbeiter in der Schweiz.

«Ich kam immer um sieben Uhr abends hierher, nachdem die Männer von der Baustelle zurückgekehrt waren. Die Luft in den Räumen war schlecht. Der Geruch von Schweiss der aufgehängten Arbeitskleidung mischte sich mit den Düften der Speisen aus den verschiedenen Ländern.

In der Küche herrschte immer ein reges Treiben. Es gab diejenigen, die kochten, diejenigen, die assen, und diejenigen, die darauf warteten, dass ein Gaskocher frei wurde. Jeder bereitete sein eigenes Abendessen zu: Pasta mit Knoblauch und Peperoncino, jede Menge Thunfisch oder Sardinen aus der Dose oder ein paar Hähnchenschenkel.»

Mariano Franzin schaffte es durch seinen Einsatz, dass die Baracken Anfang der 1990er Jahre eine Dusche mit Warmwasser erhielten. Bis dahin mussten sich die Arbeiter auf der Baustelle – so gut es ging – mit dem Wasserschlauch von Schmutz und Staub befreien.

Die Toiletten hingegen blieben, wie sie waren: zwei türkische Toiletten und ein Pissoir für hundert Personen. «Eines Abends regnete es in Strömen, und als ich die Treppe hinaufging, traf ich einen Arbeiter, der gerade nach draussen ging», erzählt Franzin. «Ich fragte ihn, wo er hinwolle. Und er sagte mir: Zum Pinkeln, weil die Toilette besetzt ist.»

Trotz der unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Saisonniers leben mussten, zog der Patron ihnen monatlich 50 bis 60 Franken für die Unterbringung vom Lohn ab. In Notfällen, wenn die Schweizer Wirtschaft mehr Arbeitskräfte brauchte, wurden die Feldbetten zu Stockbetten umgebaut.

Eine ungewisse Zukunft

Florian Eitel weiss nicht genau, wie lange die Saisonarbeiter in den Baracken der Firma Bührer untergebracht waren. «Wir haben alte Zeitungen, Quittungen und einen religiösen Kalender aus den frühen 1990er-Jahren gefunden, alle in spanischer Sprache», sagt der Historiker.

Das Saisonnierstatut wurde 2002 mit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der Europäischen Union abgeschafft. «Die Abschaffung war also eine von der EU auferlegte Entscheidung», so der Historiker. Die letzte Grossbaustelle in Biel, auf der Saisonniers tätig waren, war die Arteplage, eine der Plattformen der Landesausstellung Expo.02, die im kollektiven Gedächtnis der Schweizerinnen und Schweizer geblieben ist.

Die Baracken von Biel waren über die Jahrzehnte in Vergessenheit geraten. Doch im Sommer 2023 rückten sie plötzlich durch eine Hausbesetzung in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Ein Kollektiv verblieb dort drei Wochen. Seit dem Frühjahr 2024 wird das Areal der Baufirma Bührer erneut von einem Kollektiv junger Leute bewohnt. Sie haben vom Kanton Bern die Erlaubnis erhalten, die Baracken, nicht aber die Villa, für die nächsten 15 Jahre zu nutzen. Danach soll dort ein Neubau des Gymnasiums Strandboden entstehen.

Beim Besuch des Geländes blickt sich Florian Eitel häufig sorgenvoll um, denn er befürchtet, dass dieses letzte Zeugnis der Epoche der Saisonniers ausgelöscht wird. «Dieser Ort hat eine unschätzbare historische und kulturelle Bedeutung. Andernorts wurde dieses Kapitel ausgemerzt, weil von den Saisonarbeitern keine Spur übrigbleiben sollte, obwohl ihr Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz enorm war.» Um die Erinnerung wach zu halten, will der Verein TesoroExterner Link, der sich für die Aufarbeitung des Leids migrantischer Familien mit Saisonnier- und Jahresaufenthalterstatut einsetzt, in den Bieler Baracken Führungen anbieten sowie Ausstellungen organisieren.

Sehen Sie auch einen weiteren Bericht dazu Externer Linkaus SRF.

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Übertragung aus dem Italienischen von Gerhard Lob.

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