Die Verwirrung der Schweiz über die Muslime
Als die Walliser Behörden einem Imam die Aufenthalts-Bewilligung verweigerten, haben sie ein landesweites Problem sichtbar gemacht. Die Debatte ist eröffnet.
Die Affäre zeigt das Unbehagen der Schweiz im Umgang mit der muslimischen Bevölkerung.
Beispiele, die das Unbehagen illustrieren, gibt es genug. Das jüngste hat der «Nouvelliste» diese Woche aufgegriffen. Laut der Walliser Tageszeitung haben die kantonalen Behörden einem mazedonischen Imam die Aufenthaltsbewilligung verweigert, weil sie ihn des Fundamentalismus verdächtigen.
Einige Tage zuvor kam es im Westschweizer Radio zu einer lebhaften Polemik: Ausgelöst wurde sie, weil in zwei Luzerner Gemeinden muslimischen Kindern Islamkurse angeboten wurden.
Auch in Genf ist die Stimmung gereizt: Die Gemeinde verweigerte den Muslimen (und den Juden) Grabstätten auf dem grössten Friedhof der Stadt.
Das Klima in Genf hat sich in letzter Zeit zunehmend verschlechtert. Mitverantwortlich sind die radikalen Aussagen des Leiters des Islamischen Zentrums in einer Diskussion mit dem Titel «La charia incomprise» («Die unverstandene Scharia»).
In der französischen Tageszeitung «Le Monde» rechtfertigt Zentrums-Leiter Hani Ramadan unter anderem den Tod durch Steinigung. Dies sorgte für erhitzte Gemüter in der Calvin-Stadt und auch in der übrigen Westschweiz.
Überstürzte Reaktionen
«Es ist erstaunlich, dass die Schweiz und das übrige Westeuropa plötzlich die islamischen Gemeinschaften entdecken, die in ihrer Mitte leben», sagt Mondher Kilani, Anthropologe an der Universität Lausanne.
«Die Behörden reagieren oft überstürzt und treffen ihre Entscheidungen ohne fundierte Kenntnisse über die verschiedenen Gemeinschaften», stellt Kilani fest.
In der Schweiz wie anderswo in Europa habe man eine einseitige und verschwommene Auffassung der islamischen Welt. Türken, Tunesier, Iraner oder Libaenesen würden laut Kilani in einen Topf geworfen.
Der Lausanner Anthropologe verweist auch auf Armut vieler Immigranten. Ausserdem hätten diese bei der Ankunft in der Schweiz oft gar nicht die Absicht zu bleiben. Unter diesen Umständen haben die Muslime Schwierigkeit, einen Vermittler zwischen ihnen und den Behörden im Gastland zu finden.
Zusätzlich wird die Problematik durch internationale Geschehnisse verschärft, die von einem radikalen Islamismus und terroristischen Aktivitäten geprägt sind.
Verständliche Ängste
Der Neuenburger Ethnologe Pierre Centlivres versteht die Ängste der Schweizer Bevölkerung. «Mit dem katholischen oder dem protestantischen Fundamentalismus haben sie leben gelernt», erklärt er und verweist auf frühere Konflikte in der Schweiz.
«Aber», so Centlivres weiter, «mit dem Islam und seinen fundamentalistischen Strömungen können sie nicht leben. Nun wird dies jedoch zunehmend Realität.»
Der Ethnologe stellt auch fest, dass in der Schweiz die Kultur eines nicht-praktizierenden Christentums vorherrscht. «Einige Leute fühlen sich deshalb angesichts der Muslime, die ihre Religion viel sichtbarer praktizieren, in einer Position der Schwäche.»
Trotzdem will Centlivres nicht schwarz malen. «Die meisten Menschen in der Schweiz kennen Muslime», sagt er. «Ausserdem sind die meisten Muslime gut integriert und praktizieren einen weltlichen Islam.»
Eine nicht so weltliche Schweiz
«Der Islam stellt unsere Gesellschaft vor eine Grundsatzfrage», ist Anthropole Kilani überzeugt. «Nämlich jene nach dem Platz der Religion in unseren weltlichen Gesellschaften.»
swissinfo
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch