Genfs frühe Doppelmoral beim Kolonialismus
Wie andere europäische Städte ist Genf dabei, seine historischen Verbindungen zum Kolonialismus aufzuarbeiten. Eine neue Ausstellung zeigt, dass einige der offensivsten expansionistischen Verhaltensweisen ausgerechnet von humanitären Ikonen ausgingen.
Genf wird oft als die Wiege der internationalen humanitären Hilfe und der Menschenrechte gesehen. Die Stadt hat aber auch ihre dunkle Seite und in ihrer Geschichte zur Förderung von Ungleichheit und Rassismus beigetragen.
Viele der Persönlichkeiten, die den Grundstein für das internationale Genf gelegt haben, waren an Dingen beteiligt, die heute als Menschenrechtsverletzungen anerkannt sind.
Eine Ausstellung im ethnologischen Museum Genf über die Rolle der Stadt im europäischen Kolonialismus deckt diesen Widerspruch auf.
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Sie zeigt, wie Genf unter anderem die belgische Kolonialherrschaft und die Verbrechen im Kongo aktiv unterstützte und finanzierte. Und sie hinterfragt die Beweggründe der Gründer des Roten Kreuzes im späten 19. Jahrhundert.
«Es gibt diese Schweiz, die sich mit der Gründung der Rotkreuz-Bewegung für humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe einsetzt, die aber gleichzeitig darauf bedacht ist, ihren Platz auf dem Schachbrett der globalen kapitalistischen Ausplünderung zu halten», sagt Fabio Rossinelli, Professor für Schweizer Kolonialgeschichte an der Universität Lausanne.
Einerseits identifiziert sich das Land mit einem internationalen Ökosystem, das nach Frieden und Humanität strebt, andererseits ist es Standort einiger der grössten globalen Unternehmen, denen soziale und ökologische Verstösse vorgeworfen werden.
«Es ist die Kontinuität dessen, was im 19. Jahrhundert beobachtet wurde.»
Nicht die, die Sie vielleicht erwarten
Bei einem Gespräch im Musée d’Ethnographie de Genève (MEG) erläuterte Rossinelli die Rolle der Gründer der Rotkreuz-Bewegung, Henry Dunant und Gustave Moynier, im Afrika des 19. Jahrhunderts, als es darum ging, die kolonialen Gebiete zu definieren. «Sie waren grosse ‚Kolonisatoren'», sagte er.
Obwohl die Schweiz im Gegensatz zu vielen ihrer Nachbarn keine eigenen Kolonien besass, arbeitete Dunant bei der Genfer Handelsgesellschaft der Schweizer Kolonien von Sétif, einem privaten Unternehmen.
Dieses war infolge einer französischen kaiserlichen Konzession in Algerien gegründet worden, um eine landwirtschaftliche Siedlerkolonie zu schaffen, die bis 1956 Bestand hatte. Später gründete Dunant sein eigenes Unternehmen in Algerien, wo er sich danach auch niederliess.
Moynier wiederum spielte eine wichtigere Rolle bei der Kolonisierung des Kontinents, wie Rossinelli erklärt.
Als Mitglied der Geographischen Gesellschaft von Genf, die durch ihre Missionsarbeit an der Entdeckungs- und Kolonialbewegung beteiligt war, gründete Moynier «L’Afrique explorée et civilisée» (Afrika erforscht und zivilisiert).
Es war die einzige damals in französischer Sprache erhältliche Publikation zum Thema Kolonialismus; sie erschien von 1879 bis 1894 und wurde weltweit verteilt, auch an Missionare im heutigen Mosambik.
Die Zeitschrift übernahm einen damals in Europa entwickelten Diskurs, der darauf abzielte, die westliche Zivilisation und das Christentum zu fördern. Theorien der rassischen Überlegenheit ‒ scheinbar bestätigt durch den technischen Fortschritt und die Modernität, die mit der industriellen Revolution einhergingen ‒ legitimierten die koloniale Gewalt.
Die europäische Anti-Sklaverei-Bewegung, die sich nach der Abschaffung der Sklaverei in den amerikanischen Kolonien entwickelte (das letzte Land war Brasilien im Jahr 1888) und die in Moyniers Publikation beschrieben wird, förderte die Bemühungen um die «Befreiung» und «Zivilisierung» der Menschen in Afrika, wo der «traite arabeExterner Link«, der arabische Menschenhandel, angeblich vorherrschte.
«Man kann sich fragen, warum Genf den Antisklaverei-Diskurs, den zivilisatorischen und kolonialen Diskurs übernommen hat. Lag es an der Naivität oder am Idealismus? Wahrscheinlich zum Teil», sagt Rossinelli. «Aber es ging auch um politische und wirtschaftliche Fragen.»
Nachdem er von den Banken in Paris und London ‒ den mit Belgien rivalisierenden Kolonialhauptstädten ‒ brüskiert worden war, fand König Leopold II. von Belgien Genfer Bankiers, die bereit waren, seine Expeditionen in den Kongo zu finanzieren.
Der König hatte die Region zu seinem persönlichen Besitz und sie 1885 zum Freistaat Kongo erklärt. Moynier, ein angesehener Jurist in Genf, hatte das Glück, dass er bei der Gründung seiner Zeitschrift von beiden Seiten unterstützt wurde. «Dank des Abkommens mit Leopold II. konnte Moynier die Zeitschrift ins Leben rufen.»
Finanziers Belgischer Gräueltaten
Und als Belgien unter der absoluten Herrschaft von Leopold II. immer weiter in den Freistaat Kongo vordrang, ermöglichten Kredite aus Genf seine ausbeuterische Arbeitspolitik zur Gewinnung und zum Export von Kautschuk aus dem Kongobecken.
Dabei wurden Gräueltaten begangen: Verstümmelung von Arbeitern, Morde an zwangsrekrutierten Einheimischen, die zur Erzielung einer maximalen Produktion gezwungen wurden.
«Die gesamte Genfer Elite und die herrschenden Kreise Genfs, die der Geographischen Gesellschaft angehörten, unterstützten Leopolds Anliegen der Kolonisierung des Kongo und finanzierten ihn», sagt Rossinelli.
Leopolds Beziehungen zur Schweiz wurden immer enger, und er stützte sich später auf diese Beziehungen, um bei internationalen Streitigkeiten mit Frankreich und Portugal die Berner Schiedsgerichtsbarkeit in Anspruch zu nehmen.
Zwischen 1890 und 1904 fungierte Moynier als Leopolds Generalkonsul in der Schweiz. Das Konsulat und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) waren in den gleichen Räumlichkeiten untergebracht.
Der historische Hintergrund
Ein Jahr bevor Leopold II. auf der Weltausstellung 1897 in Belgien eine koloniale Abteilung einrichtete, in der Kongolesen wie in einem Zoo präsentiert wurden, organisierte die Schweizerische Landesausstellung ihr eigenes «schwarzes Dorf», eine lebende Menschenausstellung in einem Vergnügungspark, der nur wenige hundert Meter vom heutigen ethnologischen Museum in Genf entfernt war.
Der «Menschenzoo» fügte sich in das imperialistische Narrativ und die rassistischen Stereotypen ein, die von Moynier und Dunant gefördert wurden.
Pascal Hufschmid, Direktor des Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondmuseums, beglückwünschte das Museum zu seiner Arbeit, mit der es die Rolle der Gründer der Rotkreuz-Bewegung in Frage gestellt hat.
«Das Problem mit einer Ikone [wie den Gründerfiguren des Roten Kreuzes] ist, dass die problematischen Aspekte der Persönlichkeit oder des Handelns ausgeblendet werden», sagt er. Die Rolle der Museen bestehe darin, simple Fragen über die Personen zu stellen, die zu unbequemen Wahrheiten führen könnten.
Eine solche Frage sei, warum Dunant in Solferino war, dem Schauplatz einer brutalen Schlacht zwischen den französischen Alliierten und Österreich im Jahr 1859, die durch seine Schriften zur Inspiration für die Genfer Konventionen wurde.
«Er war aus geschäftlichen Interessen im Zusammenhang mit dem Kolonialsystem dort, und das darf nicht verschwiegen werden», sagt Hufschmid. Stattdessen «muss man sich damit auseinandersetzen und anerkennen, dass diese Gründerfiguren der Bewegung ambivalent waren. Sie waren unvollkommen und hatten Vorurteile».
Der IKRK-Historiker Daniel Palmieri stimmt zu und weist darauf hin, dass die beiden Gründer im historischen Kontext betrachtet werden müssten. «Sie waren Männer ihrer Zeit», sagt er und ergänzt, dass im Europa des 19. Jahrhunderts «Zivilisierung» nicht als abwertend verstanden wurde. «Für Dunant und Moynier war der Kolonialismus ein Weg, die Welt zu zivilisieren.»
Palmieri zufolge könnte Moynier, der Afrika nie besucht hatte, später enttäuscht gewesen sein von dem, was diese «zivilisierenden» kolonialen Unternehmungen im Kongo darstellten, nachdem in Europa Zeitungsberichte über begangene Missbräuche erschienen waren.
«Die Frage ist, warum ist er nicht von seinem Posten als Konsul zurückgetreten?», fragt sich Palmieri. Er vermutet, dass es sich dabei um eine Frage des Egos gehandelt haben könnte, denn Moynier war stolz darauf, mehrere Auszeichnungen für seinen Beitrag zur Festlegung internationaler Grenzen auf dem Kontinent erhalten zu haben.
Was folgt als Nächstes?
Kürzlich wurde im Museum des Roten Kreuzes eine Darstellung der Genfer Konventionen so verändert, dass sie eine Frage an die Besucher:innen enthält, nämlich wer 1864, als die Konventionen verfasst wurden, zur Menschheit gehörte.
«Wenn man diese riesigen rosa Elefanten im Raum nicht adressiert, ist man irrelevant», sagte Hufschmid. «Wir müssen die Art und Weise, wie wir die Geschichte erzählen, kritisch betrachten und sicherstellen, dass wir einer Vielzahl von Stimmen Raum geben.»
Die Direktorin des MEG, Carine Ayélé Durand, erklärt, das Ziel der jüngsten Ausstellung sei es, die Besuchenden dazu anzuregen, die Genfer Vergangenheit zu hinterfragen, «um auf die heutigen Herausforderungen zu reagieren und in die Zukunft zu gehen».
Rossinelli, der Historiker der Ausstellung, betont, dass ein Teil der Überlegungen die Rolle des Privatsektors in Genf und in der Schweiz auf globaler Ebene betrifft. «Es gibt eine klare Kontinuität seit dem 19. Jahrhundert. Die neuen Formen der gleichen Machtverhältnisse werden heute von multinationalen Unternehmen und Banken aufrecht erhalten.»
Ayélé Durand sagt, dass die Ausstellung ein Forum bieten soll für die «Nachkommen der Menschen, die gesammelt haben, und die Nachkommen der Menschen, die gesammelt wurden. Es geht nicht um Rache, und es ist auch kein Weckruf. Es geht nicht darum, irgendetwas zu annullieren. Es geht nur darum, die Möglichkeit zu haben, darüber zu sprechen.»
Editiert von Virginie Mangin and Eduardo Simantob, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger
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