Italiens Kruzifixe entfachen alte Diskussion
Das Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Strassburg hat entschieden, dass Kruzifixe in Italien nicht mehr in Schulzimmern hängen dürfen. Dieser Entscheid bringt das Thema auch in die Schweiz.
Das Gericht in Strassburg entschied diese Woche, dass die Freiheit der Kinder, keiner Religion anzugehören, mehr zu gewichten sei als Symbole, die einen Glauben oder eine Religion repräsentieren. Damit sind die Säkularisten zufrieden, denn nach ihnen sollte die staatliche Erziehung frei sein von religiösem Einfluss.
Claude Roch, Vorsteher des Departements für Erziehung, Kultur und Sport des katholischen Kantons Wallis, sagte gegenüber Le Temps: «Ich bin gegen das Prinzip der Beseitigung dort, wo Kreuze bereits vorhanden sind. Sollte mich eine solche Anfrage erreichen, werde ich sie ablehnen. Meiner Meinung nach verstossen Kruzifixe an der Wand nicht gegen die Religionsfreiheit eines nicht katholischen Schulkindes», so Roch.
Im protestantischen Kanton Zürich hingegen sind Kreuze aufgrund der gesetzlichen Vorschrift der religiösen Neutralität aus den Schulen verbannt worden.
Robert Steinegger vom zürcherischen Volksschulamt sagte gegenüber dem Tages-Anzeiger, Kruzifixe in Schule suggeriert, dass es sich um eine christliche Institution handle.
Der Fall Cadro
In der Schweiz wurde letztmals Anfang der 1990er-Jahre über die Frage nach Kruzifixen in Schulräumen diskutiert, nämlich im so genannten Fall Cadro.
Damals hatte sich ein Lehrer aus Cadro, einer Ortschaft im katholischen Kanton Tessin, über das Kreuz in seinem Schulzimmer beschwert. Dieser Fall endete vor dem Bundesgericht, wo die Richter der Frage nachgingen, ob Kruzifixe an den Wänden gegen die Doktrin der staatlichen Unparteilichkeit verstossen würden.
Das Gericht kam zum Schluss, der Staat dürfe die Empfindsamkeit von Schulkindern oder deren Eltern nicht verletzen. Ausserdem könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich einige Menschen in ihrem religiösen Glauben beleidigt fühlten durch die ständige Präsenz eines religiösen Symbols, das einer anderen Religion angehöre.
Mit anderen Worten: der Lehrer bekam recht. Dennoch führte dieser Fall nicht zu einer Massen-Ausräumung von Kruzifixen aus staatlichen Schulen.
«So lange sich niemand beschwert, gibt es keine Probleme», sagt Etienne Grisel, Professor für Recht an der Universität Lausanne, gegenüber swissinfo.ch.
«Der Fall im Tessin war ein Einzelfall und hat sich nicht wiederholt. Das zeigt, dass es dort, wo Kruzifixe immer noch sichtbar sind, nicht unbedingt ein Problem sein muss.»
«Kurzsichtig»
Den Fall in Italien brachte eine Mutter von zwei Kindern ins Rollen, als sie gegen Kruzifixe an den Wänden in allen Schulzimmer Einwände vorbrachte. Als die sie keine Genugtuung durch den Aufsichtsrat der Schule erhielt, entschied sie sich für einen juristisches Verfahren, das im italienischen Verwaltungsgericht endete.
Das Gericht hielt fest, dass das Kruzifix beides sei: ein Symbol der italienischen Geschichte und Kultur sowie der nationalen Identität. Die Einsprache wurde fallen gelassen.
Das neueste Urteil von Strassburg löste wütende Reaktionen von italienischen Politikern aus. Der Vatikan nannte das Urteil «falsch und kurzsichtig».
Katholiken und Protestanten
Ein entscheidender Unterschied zwischen der christlichen Tradition in Italien und der Schweiz ist, dass es in der Schweiz Katholiken und Protestanten gibt, wobei weder den einen noch den anderen eine spezielle Stellung im Staat gewährt wird.
Die meisten Debatten, die in letzter Zeit in der Schweiz geführt wurden, betrafen die drittgrösste religiöse Gemeinschaft der Schweiz, die Muslime.
Felix Gmür von der Schweizerischen Bischofskonferenz zieht Parallelen zwischen der Auseinandersetzung um Kruzifixe und der Abstimmung am 29. November über die Initiative für ein Minarett-Verbot.
«Wir erhalten viele Brief zur Minarett-Initiative, in denen steht, dass wir ein christliches Land seien. Aber was heisst es in einem christlichen Land zu leben, in dem christliche Symbole nicht sichtbar sind?», fragt Gmür.
«Wir sollten uns durch diese Symbole nicht beleidigt fühlen, die für manche Leute heilig sind. Die christliche Tradition in der Schweiz ist in Gefahr, unsichtbar zu werden. Wenn sich das Stimmvolk gegen die Minarette ausspricht, dann wird der nächste Schritt die christlichen Symbole betreffen», sagt Gmür gegenüber swissinfo.ch.
Sichtbarkeit
Simon Weber, Sprecher des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds (SEK), sieht hingegen keine Gefahr, dass das Christentum aus der Öffentlichkeit verschwindet.
«Wir haben immer noch genügend Kirchen, die zeigen, dass wir präsent sind. Es ist nicht die Qualität der Objekte oder der Gebäude, welche die Dinge ändern werden, sondern es sind dies die Arbeit und die Präsenz der Kirchen», sagt Weber gegenüber swissinfo.ch.
Die Frage um religiöse Symbole betrifft hauptsächlich die Katholiken. Denn Schulen in protestantischen Gebieten haben keine Tradition, Kreuze aufzuhängen.
Laut Weber gibt es aus Sicht der Protestanten kein Problem, solange es zu keiner Verbannung oder einem Aufzwingen in öffentlichen Orten kommt.
«Wir unterscheiden uns sehr von Italien. Der grosse Vorteil unseres Systems ist, dass wir im Fall von kleineren religiösen Diskussionen das Thema auf einer lokalen Ebene behandeln und nicht auf einer zentralistischen wie in anderen Ländern.»
Calre O’Dea, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Sandra Grizelj)
Die Verteilung der Religionen in der Bevölkerung gemäss der Volkszählung aus dem Jahr 2000:
Römisch–katholisch:
41,8%
Evangelisch-reformiert (protestantisch):
33%
Christlich-orthodoxe:
1.8%
Jüdische Gemeinschaft:
0,3%
Islamische Gemeinschaft:
4,3%
Buddhistische Vereinigungen:
0,3%
Hinduistische Vereinigungen:
0,4%
Keine Zugehörigkeit:
11,1%
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