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Jugend und Religion: ein Pop-Event

MusicStar-Siegerin Carmen Fenk schämt sich nicht, ihre Liebe zu Gott herauszuschreien. Keystone

Zukunftsängste, Abkehr von der Konsumgesellschaft, Bedürfnis nach Orientierung und Gruppengefühl.

Vorbei ist die Zeit, wo es wenig «cool» war, religiös zu sein. Die Jungen wenden sich wieder Gott zu. Aber meist nicht in den traditionellen Kirchen.

«Ein auf dem Fensterbrett sitzender Knabe namens Eutico fiel in tiefen Schlaf, da Paulus seine Predigt in die Länge zog. Völlig übermannt vom Schlaf, stürzte er hinunter vom dritten Stock.»

Der Knabe, so die Evangelien, schien tot zu sein, kam dann aber glücklicherweise wieder zu sich.

Die Metapher kann auch heute herangezogen werden, um zu veranschaulichen, welches Risiko die traditionellen Kirchen angesichts der scharfen Konkurrenz auf dem «Glaubensmarkt» eingehen.

«Um den Glauben zu verkaufen», sagt der Religionssoziologe Jörg Stolz, «scheuen sich die neuen Kirchen nicht, wenig konventionelle Methoden anzuwenden».

Evangelikale in der Schweiz im Aufwind

Auch die traditionellen Kirchen benützen seit jeher das «Spektakuläre», um die Gläubigen zu beeindrucken: Die dramatische Architektur der gotischen Kathedralen oder der barocken Kirchen sind da nur ein Beispiel. Ein weiteres ist selbstverständlich die Musik.

Aber wenn der Papst auch verschiedentlich an Rockkonzerten teilgenommen hat, bleibt die Struktur der katholischen Liturgie doch klassisch.

Nun gibt es aber Kirchen, die solche Konzerte in den Mittelpunkt der Messe stellen: Gepredigt wird nicht von der Kanzel, sondern von der Tribüne. So funktioniert in der Schweiz insbesondere die International Christian Fellowship (ICF), eine Freikirche, die sich aus dem amerikanischen evangelischen Fundamentalismus ableitet und laut Jörg Stolz eines der «grössten Erfolgsprodukte» der religiösen Szene darstellt.

«Die Bibel bleibt unsere Grundlage, was ändert ist nur der Stil, wie sie dargeboten wird; wir wollen, dass er modern und attraktiv ist», erklär ICF-Sprecher Daniel Lindert gegenüber swissinfo .

«Wir wollen Leute ansprechen, die noch nie in der Kirche waren oder die nicht mehr hingehen, weil sie diese veraltet finden.»

Verschiedene «Events» für jedes Alter

Jedes Wochenende singen und tanzen Scharen von ganz jungen ICF-Anhängern, hingerissen von der Musik, dem gleissenden Licht der Diskothek und den Predigern, die nicht älter sind als sie selbst – in einer Erfahrung kollektiver Transzendenz.

Die ICF besteht in der Schweiz erst seit 8 Jahren, zählt aber bereits 5000 Anhänger. Sie ist aktiv in 15 Städten, und die Zahl ihrer Gläubigen steigt jedes Jahr um 25%. Ein imposanter Erfolg, verglichen mit der chronischen Krise, in der sich die traditionellen Kirchen befinden.

Unlängst veröffentlichte Zahlen zeigen, dass die Reformierten Kirchen Bern, Jura und Solothurn 2003 erstmals die Schwelle der 3000 Austritte überschritten haben.

Es gibt in der Religiosität der jungen Menschen und der Erwachsenen grosse Unterschiede, und die ICF hat diesen «Generationen-Graben» optimal auszunutzen gewusst – mit «Events» und separaten Veranstaltungen für jedes Alter.

Revanche der traditionellen Kirchen

Um die Abwanderung ihrer Gläubigen zu bremsen, haben die Schweizer Landeskirchen reagiert: im Visier sind primär die Jungen. Vor rund einem halben Jahr hat die reformierte Kirche Zürich ein Pilotprojekt gestartet, die «Jugendkirche Zürich».

«Die Statistiken zeigen deutlich, dass sich 60 bis 80% der Jungen für Gott und religiöse Fragen interessieren. Doch nach der Konfirmation beenden sie ihre Beziehung zur Kirche», sagt Angela von Lerber, Kommunikations-Verantwortliche des Projekts.

«Bis jetzt haben wir noch nicht Tausende von Teilnehmern bei unseren Veranstaltungen wie die ICF. Deshalb müssen wir uns nicht so sehr um das visuelle Erscheinungsbild unserer Präsentationen bemühen. Aber wir haben Kontakt aufgenommen zu Jugendlichen aus der Hip-Hop-Szene. Und wir arbeiten vor allem mit ihnen.»

Die katholische Synode Zürich hat ein ähnliches Projekt wie die «Jugendkirche» ebenfalls bewilligt. Gestartet werden soll es 2006. «Wer weiss, vielleicht finden wir einen Weg, um mit ihnen zusammenzuarbeiten», hofft Angela von Lerber.

Sekte oder nicht?

Bei der ICF stellt sich die Frage, ob es sich um eine Sekte handelt oder nicht. «Einige Theologen bejahen es, andere nicht», sagt Daniel Linder. «Was zählt ist, dass die Leute zu uns kommen, weil man sich hier gut fühlen kann. Und mit der Zeit beginnen sie, sich getragen zu fühlen, zum Beispiel mit dem Volontariat. Doch wer nicht bleiben will, der geht einfach. Denn wir kennen keine offizielle Mitgliedschaft.»

Den Trend der Freikirchen spüren besonders die Protestanten. Doch die neuen Gemeinschaften versuchen, auch immer mehr Katholiken anzuziehen.

In der katholischen Kirche sind es zudem andere Gruppierungen, welche Raum für eine vertiefte Frömmigkeit lassen. So zum Beispiel die Fokolar-Bewegung oder Communione e Liberazione.

Das Charisma des Papstes

Ein Aspekt, der nicht vernachlässigt werden darf, ist die Faszination des Papstes auf die katholischen Jugendlichen – trotz seines Alters und seiner Krankheit.

«Der Papst hat ein grosses Charisma und eine immense Medienpräsenz», erklärt Jörg Stolz. «Je jünger man ist, umso eher neigt man dazu, sich mit einem Ideal zu identifizieren. Die Tatsache, dass der Papst trotz seiner Schwäche nicht von seinem Amt zurücktritt, verstärkt sein Charisma. Der Papst wirkt noch mehr wie ein Heiliger.»

Und er wird die Schweizer Jugendlichen treffen: im Juni in Bern.

swissinfo, Raffaella Rossello
(Übertragung aus dem Italienischen: Monika Lüthi und Eva Herrmann)

Rund um die Sendung «MusicStar» auf SF DRS geriet die neue Religiosität der Jungen ins Blickfeld.

Verschiedene Teilnehmende des Gesang-Wettbewerbs sagten öffentlich, sie würden regelmässig beten. Die Siegerin erklärte, für sie sei «Gott alles».

Carmen Fenk, geprägt von den Methodisten, lockte mit ihren Auftritten eine Million Menschen vor den Bildschirm.

ICF gibt es in der Schweiz seit 8 Jahren.

Heute zählen die Evangelikalen 5000 Gläubige, darunter viele Jugendliche.

ICF ist in 15 Schweizer Städten präsent, das Wachstum beträgt 25% pro Jahr.

Zum Vergleich: die Reformierte Kirche Bern, Jura und Solothurn verlor letztes Jahr über 3000 Mitglieder.

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