«Konversionen zum Islam können als etwas Verdächtiges gesehen werden“
Eine Studie untersucht zum ersten Mal die Begleitung, die Konvertit:innen in der Schweiz erfahren. Das Angebot sei nötig, insbesondere um gewisse Vorstellungen zu widerlegen, die man im Internet findet, sagt Studienleiter Federico Biasca.
Um zum Islam zu konvertieren, muss man theoretisch nur zweimal vor muslimischen Zeugen ein Glaubensbekenntnis (Schahada) ablegen, in dem man anerkennt, dass «es keinen Gott ausser Allah gibt und dass Mohamed sein Prophet ist“. Natürlich gibt es aber noch ein paar weitere Dinge, die man wissen sollte.
In der Schweiz wenden sich konversionswillige Personen oft an die verschiedenen muslimischen Vereinigungen.
In einer wegweisenden Studie analysierte Federico Biasca, Forscher am Schweizer Zentrum für Islam und Gesellschaft (CSIS) der Universität FreiburgExterner Link, die Aktivitäten, die von fünfzehn muslimischen Vereinen in der lateinischen Schweiz angeboten werden.
SWI swissinfo.ch: Was wissen wir über die Zahl der Konvertit:innen in der Schweiz und ihr Profil?
Federico Biasca: Es gibt keine genauen Statistiken über Konversionen zum Islam und zu anderen Religionen. Wir leiten diese Zahl aus den Personen ab, die sich dem Schweizer Islam zugehörig fühlen, aber keinen Migrationshintergrund haben. Dies würde 2-3% der Muslime in der Schweiz entsprechen.
Es gibt keine typischen Profile. Was ich aber aus den Interviews, die ich geführt habe, sagen kann, ist, dass die meisten Personen, die an die Türen der muslimischen Vereine klopfen, junge oder sehr junge Erwachsene sind, manchmal auch Minderjährige. Es gibt Männer und Frauen zu gleichen Teilen.
>> Lesen Sie die gesamte, frei zugängliche Studie von Federico Biasca (in Französisch):
«La prise en charge des personnes converties à l’islam par les associations musulmanes en Suisse latine»
Was zieht sie am Islam an?
Es ist zu beobachten, dass viele Menschen sich für den Islam interessieren, weil sie muslimische Bekannte in ihrem Umfeld haben. Dies sind Personen, die eher aus einer sozialen Perspektive mit dem Islam in Berührung kommen. Andere haben einen eher intellektuellen Zugang durch das Studium von Texten und durch Reisen in muslimische Länder. Es gibt also verschiedene Wege, um Zugang zu finden.
Wie andere Religionen kann der Islam auch Antworten auf Fragen geben, die vor allem junge Menschen in Bezug auf grosse Themen wie den Sinn des Lebens haben.
Studien in Europa zeigen, dass Konvertit:innen im radikalen Islam übervertreten sind. Stellen Sie dies auch in der Schweiz fest?
Ich habe keine genauen Zahlen, aber das ist tatsächlich das, was die Forschung feststellt. Vor 20 oder 30 Jahren wurde der Islam vor allem von Menschen angenommen, die sich für mystische und intellektuelle Versionen des Islam interessierten, wie z. B. den Sufismus. Heute interessieren sie sich auch für politische und manchmal konservative Versionen des Islams.
Es fällt auf, dass die Zahl der Konvertiten bei den konservativen Strömungen hoch ist und dass diese bei den radikalen Gruppen im Vergleich zur muslimischen Gesamtbevölkerung überrepräsentiert ist. Und das betrifft auch die Schweiz.
Daher die Bedeutung von Vereinen, die als Leitplanken wirken können…
Ja. Vereine können zwar nicht alles tun, aber sie sind physische Räume, in denen Konvertiten andere Muslime treffen und Formen der Geselligkeit erleben, was wichtig ist. Sie helfen den Konvertiten auch, ihren neuen Glauben in einem schweizerischen Kontext zu leben.
Sie spielen auch eine Rolle bei der Dekonstruktion dessen, was bisweilen über das Internet und die sozialen Netzwerke vermittelt wird. Es ist nicht ungewöhnlich, auf radikale Versionen des Islam zu stossen, wenn man sich über diese Kanäle informieren möchte.
Leiter von Vereinen haben mir gesagt, dass konversionswillige Personen mit einer Reihe von im Internet gefundenen Inhalten auftauchen und dass dann eine ganze Menge Aufklärungsarbeit geleistet werden muss, um radikale Entgleisungen zu verhindern.
Bei diesen Verantwortlichen handelt es sich in der Praxis häufig um Imame.
Ich spreche in meiner Studie von «Konversionsagenten“, da es so aussieht, als würden die Vereine die Schlüsselpersonen bestimmen, welche die Konversionswilligen dann begleiten.
In dreizehn der fünfzehn analysierten Vereine handelt es sich dabei um Imame. Dies stellt für sie eine zusätzliche Belastung in ihrem ohnehin schon vollen Programm dar.
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Neue Workshops für Imame sind beliebt
Es wird oft angenommen, dass der Übertritt zum Islam einfach ist. Ihre Studie zeigt, dass dies nicht unbedingt der Fall ist.
Das Aufnahmeritual ist relativ einfach. Es genügt, das Glaubensbekenntnis zweimal vor muslimischen Zeugen auszusprechen. Es besteht jedoch eine grosse Diskrepanz zwischen der Einfachheit des Rituals und dem, was die Person konkret an dogmatischen und praktischen Fähigkeiten erwerben muss.
Das ist ein Prozess, der viel Zeit in Anspruch nehmen kann. Man muss die wichtigsten Texte und Gebote des Islam kennen und auch in der Lage sein, als muslimische Person zu handeln. Insbesondere das Erlernen des Gebets ist keine leichte Aufgabe, da es sehr kodifiziert ist und genaue Gesten und Anrufungen auf Arabisch enthält.
Die Person, die konvertieren möchte, wird zunächst willkommen geheissen. Es wird geprüft, ob sie «gute Beweggründe“ hat. Was heisst das konkret?
Einige Konversionsagenten wollen die Ernsthaftigkeit des Vorhabens testen. Die Person muss wirklich von einem Interesse an der Religion getrieben sein. Die Konversionsagenten achten dann besonders auf sogenannte instrumentelle Konversionen, bei denen es nur darum geht, etwas zu erreichen.
Das am häufigsten genannte Beispiel ist eine Konversion, die nur durchgeführt wurde, um eine Person muslimischen Glaubens heiraten zu können.
Dennoch sind Ablehnungen selten.
Das ist richtig, denn es wird durchaus auch an der Motivation gearbeitet. Wenn die Geschichte, die der Konversionswillige vor dem Konversionsbeauftragten vorträgt, nicht den Standards der Organisation entspricht, wird ihm geholfen, eine Geschichte zu entwickeln, die den Zielen der Organisation besser entspricht.
Wann wird die Konvertierung wirksam?
Es muss keine schriftliche Prüfung abgelegt werden, und es gibt auch kein Diplom. Da die meisten Begleitungen bilateral stattfinden, ist dies ein langfristiger Prozess. Es werden vor allem praktische Fähigkeiten abgefragt: Wann ist die Person in der Lage, die fünf Säulen des Islams einzuhalten und zu praktizieren, insbesondere durch das Gebet?
Konversionen werden von der Gesellschaft und insbesondere von den Familien nicht immer positiv gesehen.
Das ist etwas, was Konvertiten häufig berichten. Es kann zu Spannungen kommen, besonders wenn es um die Konversion von Jugendlichen geht.
Generell erscheinen Konversionen in unserer säkularisierten Gesellschaft möglicherweise als etwas Verdächtiges. Konversionen zum Islam werfen umso mehr Fragen auf, als es sich um eine Religion handelt, die in den letzten Jahren Gegenstand vieler medialer und politischer Debatten war. Wenn ein junger Mensch zum Islam konvertieren möchte, können seine Angehörigen befürchten, dass er sich radikalen Formen zuwendet.
An diesen Fragen muss gearbeitet werden, um die Spannungen abzubauen. Ich halte es für wichtig, dass die muslimischen Vereine in Betracht ziehen, die Angehörigen in die Betreuung einzubeziehen, die sie Konvertiten anbieten. Das geschieht heute nicht systematisch. Sie sollten dies mehr tun, insbesondere wenn die jungen Konvertiten mit ihren Eltern unter einem Dach leben.
Wie werden Sie von den gebürtigen Muslim:innen aufgenommen?
Vereinsfunktionäre neigen dazu, zu betonen, dass Konvertiten gut oder sehr gut aufgenommen werden. Verschiedene Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Dinge manchmal etwas komplexer sind, da Konvertiten bekanntlich viel Zeit damit verbringen müssen, sich zu erklären, auch innerhalb der Vereine. Sie werden nicht sofort als Muslime wahrgenommen. Es kann zu Reibungen kommen. Der Empfang kann also enthusiastisch oder ziemlich kühl sein.
Ihre Studie zeigt auch, dass die Vereine zwar Konvertiten aufnehmen, aber nicht aktiv nach nach ihnen Ausschau halten.
Es scheint in der Tat so zu sein, dass es keine Bekehrungseifer gibt. Vielmehr geht es darum, die Menschen aufzunehmen, die an die Tür der Vereine klopfen. Bekannt ist aber auch, dass es innerhalb des Islams Strömungen gibt, die missionarischer sind als andere, auch in der Schweiz. Bei den Vereinen, die ich untersucht habe, ist dies jedoch nicht der Fall.
Ihre Studie bezieht sich nur auf die lateinische Schweiz. Könnten die Ergebnisse anders ausfallen, wenn die Studie auf die Deutschschweiz ausgeweitet würde?
Ich denke, dass diese Studie als repräsentativ gelten kann, zumindest auf der Ebene der Herausforderungen, die die Konversion für die Vereine aufwirft, d.h. sich zu organisieren, um zu wissen, wie man konvertierte Personen am besten begleitet.
Alles deutet darauf hin, dass, wenn man alle anderen muslimischen Vereine in der Schweiz analysieren würde, die ähnliche Merkmale wie meine Stichprobe aufweisen, die Herausforderungen dieselben wären.
Hat Sie etwas in Ihrer Studie überrascht?
Da es sich um eine explorative Studie handelt, hat mich alles ein wenig überrascht. Bisher hatte man sich kaum mit dem institutionellen Aspekt des Übertritts zum Islam befasst. Ich muss gestehen, dass ich nicht gedacht hätte, dass die Vereine das Phänomen der Konversion so ernst nehmen. Es gibt eine Form von Verantwortungsbewusstsein, da sie einen Diskurs und Aktivitäten für diese spezielle Bevölkerungsgruppe entwickelt haben. Das ist etwas, das Beachtung verdient.
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Aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger
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