Koran statt Bibel
In der Schweiz leben schätzungsweise 30'000 konvertierte Muslime. Am Wochenende hat in La Chaux-de-Fonds ihr 2. Treffen stattgefunden.
Warum der Übertritt vom Christentum zum Islam? Wie lebt es sich als «Überläuferin» in der Schweiz? Ein Portrait.
«Ich weiss gar nicht, woher sie diesen Religionsfimmel hat.» – Das habe ihr Vater immer gesagt, erklärt Monica Nur Sammour-Wüst. Das Elternhaus der 35-jährigen gebürtigen Zürcherin war reformiert; Vater und Mutter seien aber nicht sehr religiös gewesen, sagt sie gegenüber swissinfo.
«Ich bin sehr gern in die Sonntagsschule gegangen. Es war eigentlich ein ‹Aha-Erlebnis›, als ich später mit dem Islam in Kontakt kam. Es gibt ja diesen Ausspruch vom Propheten Mohammed: ‹Jedes Kind kommt als Muslim, also als Gott ergeben, auf die Welt.› Und es sind eigentlich die Eltern, die es zu etwas anderem erziehen.»
Kein Vermittler nötig
Die Lehrerin in der Sonntagsschule habe gesagt, der liebe Gott sehe und höre alles. Er habe aber Jesus als Vermittler auf die Welt geschickt. «Ich habe als 5-jähriges Mädchen meiner Mutter gesagt: Wenn der liebe Gott alles sieht und hört, dann brauche ich keinen Vermittler.»
Nach ihrem Übertritt zum Islam habe sie sich oft an diese Szene erinnert und gedacht, sie sei schon immer Muslimin gewesen. «Wenn ich Gott um Hilfe bitte, dann bitte ich ihn direkt – das ist eigentlich der Grundgedanke des Islam.»
Keine Antworten auf die Frage des Todes
1991 lernte Monica Wüst ihren ersten Mann kennen und heiratete ihn. «Zu jener Zeit stellte ich mir viele Fragen, vor allem in Bezug auf den Tod. Im Christentum habe ich überhaupt keine Antworten darauf gefunden – das ist dort ein Tabu-Thema.»
Ihr Mann kam aus dem Libanon. «Durch die Kriegserlebnisse stand er aber, obwohl mit 22 Jahren gleich jung wie ich, ganz wo anders als ich. Er verstand nicht, warum wir hier im Westen Angst vor dem Tod haben. Für ihn war klar: Im Islam ist der Tod klar definiert.»
Offiziell konvertiert
«Ich begann, mich zu informieren, und dann kam das grosse ‹Aha-Erlebnis›: Ich glaubte ja schon an Gott, an die Propheten, an die Engel, an die Vorausbestimmung, an die Auferstehung. Also: Ich war eigentlich schon lange Muslimin, nur wusste ich es nicht. 1992 trat ich dann offiziell zum Islam über.»
Der erste Mann von Monica Wüst starb bei einem Autounfall. Später heiratete sie wieder. Mit dem zweiten Mann, auch ein Libanese, lebte sie sechs Jahre bis zur Scheidung zusammen.
Islamische Erziehung
Die heute allein stehende Monica Nur Sammour-Wüst hat zwei Töchter und einen Sohn, die sie islamisch erzieht. «Ich bin für sie verantwortlich, religiös verantwortlich, bis sie volljährig sind. Bei uns zu Hause wird der Islam gelebt und praktiziert – das ist meine Aufgabe als Mutter. Die Kinder akzeptieren das, ich denke, das ist normal für sie.»
Und wenn eines der Kinder ausschert, mit dem islamischen Glauben nichts mehr zu tun haben will? «Meine grösste Bitte an Gott ist, dass das ja nie geschehen mag. Das wäre schlimm, denn für mich ist der Islam eine Lebenseinstellung, nicht ein Hemd, das man wechselt.»
Es gebe keinen Zwang in der Religion, im Glauben. «Wenn das Kind im schlimmsten Fall nichts mehr vom Islam wissen will, dann ist es für seine Taten verantwortlich, wenn es erwachsen wird.»
Hemmschwelle gesunken
Nach der Ermordung des umstrittenen holländischen Filmemachers Theo van Gogh durch einen radikalen Muslim hat sich die Diskussion über Gefahren des radikalen Islam und Ängste davor auch in der Schweiz erhitzt und verhärtet.
«Die Hemmschwelle zum Rassismus ist gesunken. Man erlaubt sich, Dinge laut zu sagen, die man vorher nur gedacht oder leise gebrummelt hat. Es gibt Musliminnen, die mir sagen, dass sie sich kaum mehr auf die Strasse wagen.»
Es gebe aber auch jene Schweizer, die wirklich tolerant seien, oder jene, die sich zumindest über den Islam informieren wollten, sagt Sammour-Wüst. «Das Schwierige an der aktuellen Situation ist, dass die Medien uns gegenüber negativ eingestellt sind. Allerdings müssen wir von unserer Seite her aufpassen, dass wir nicht nur dunkelschwarz sehen.»
Zu wenig Distanzierung von Extremismus?
Oft wird den Muslimen vorgeworfen, sie distanzierten sich zu wenig klar von Ereignissen wie jenen in den Niederlanden oder von Imamen, die Hass und Dinge predigen, welche in unserer westlich-demokratischen Gesellschaft als menschenrechtsverletzend gelten. Dieser Vorwurf bringt Sammour-Wüst in Rage.
«Stellen Sie sich vor, man würde von Ihnen ständig verlangen, sich von allen üblen Ereignissen auf der Welt zu distanzieren, nur weil per Zufall katholische oder reformierte Leute dafür verantwortlich sind. Welcher Christ distanziert sich schon von diesen pädophilen Priestern in St. Pölten? Warum haben sich nicht sämtliche Bischöfe distanziert? Wieso gab es keine Gegen-Demonstration von allen Katholiken?
Warum distanzieren sich die Juden nicht endlich von Sharon? Warum also sollte ich mich von radikalen Muslimen distanzieren? Ich fühle mich überhaupt nicht verantwortlich für das Tun und Lassen anderer Leute, ich akzeptiere ja die Gesetze und das Recht in der Schweiz.»
Privilegierte Schweizer Muslimin?
Dass Musliminnen zu Hause sitzen und nicht öffentlich auftreten dürfen, ist ein gängiges Bild. Monica Nur Sammour-Wüst tritt in der Öffentlichkeit aktiv auf. Ist das so, weil sie Schweizerin ist?
«Nein. Vor rund 1400 Jahren, zur Zeit des Propheten Mohammed, waren die Frauen keine Hausmütterchen, sondern politisch und geistig aktive Frauen. Wenn die Frau nur zu Hause am Herd ist, dann ist das ein patriarchalisches, nicht ein religiöses Muster.»
Die Landessprache lernen
Musliminnen in der Schweiz sagten oft, sie hätten grössere Probleme als ihre konvertierten Schweizer Schwestern, so Sammour-Wüst. «Kommt da noch Rassismus dazu? Jedenfalls müssen wir diesen Schwestern sagen, dass sie unbedingt Deutsch lernen sollten.
Auch der Prophet Mohammed sagte: ‹Wenn du irgendwo lebst, dann lerne die Sprache der Leute, damit du kommunizieren kannst.› Ich meine, wenn Muslime hier in der Schweiz leben, dann sollten sie die hiesige Sprache können.
Ich empfehle meinen Schwestern Deutschkurse. Dann können sie dem Nächsten, der sie blöd anmacht, sagen: Haben Sie ein Problem? Und das gibt dann vielleicht eine konstruktive Diskussion.»
swissinfo, Jean-Michel Berthoud
Laut der «NZZ am Sonntag», die sich auf Schätzungen einer muslimischen Frauen-Organisation stützt, leben in der Schweiz rund 30’000 konvertierte Muslime.
Diese beginnen sich in jüngster Zeit zu organisieren. So hat am Wochenende in La Chaux-de-Fonds das zweite Treffen der konvertierten Muslime stattgefunden.
Beobachter behaupten, dass sich unter den jugendlichen Konvertiten auch einige finden, die extremistischen Gruppen angehörten.
So bezeichnete kürzlich der Chef der französischen Terrorismusabwehr, Jean-Louis Bruguière, die konvertierten Europäer als «neue Gefahr». Eine Aussage, welche die zum Islam konvertierte Schweizerein Monica Nur Sammour-Wüst als «grotesk» zürückweist.
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