Mehrheit der Muslime findet nur wenig Gehör
"Nicht nur die Schweizer Bevölkerung kennt eine schweigende Mehrheit, die mässigend wirkt. Auch die Muslime in der Schweiz haben eine solche", sagt Sakib Halilovic. Doch finde sie wenig Gehör.
Der Imam des bosnischen Dzemats engagiert sich für einen modernen Islam. Er fürchtet sich vor verunglimpfenden Pauschalkampagnen.
15 Jahre nach dem Krieg in Bosnien sieht Sakib Halilovic wieder «ähnliche Plakate hängen, wie damals vor unserem Krieg» – nur diesmal in der Schweiz: Schwarze Schafe, Minarettstreit und Ähnliches: «Auch damals in Bosnien begann es mit solcher Propaganda. Schliesslich führte der Konflikt zur Zerstörung von über 600 islamischen Gotteshäusern, zum Genozid und zur Massenvertreibung.»
Die islamische Glaubensgemeinde (Dzemat) für südslawisch Sprechende in Zürich, der er vorsteht, habe deshalb Angst und fürchte auch um die freie Meinungsäusserung. Seit 15 Jahren lebt Halilovic in der Schweiz. In dieser Zeit habe er einen gewissen Zerfall der politischen «Gesprächs»-Kultur mitangesehen.
Dabei bemüht er sich selbst stark um Dialog: In seinen Lokalitäten in Schlieren betreibt er nicht nur Gebetsräume, sondern auch grosse Säle, Bibliothek und eine Art Clubhaus: «Wir bieten Deutsch- und Integrationskurse an, «Islam hier und jetzt»-Kurse, wobei Fachleute den Familien die Organisation des Schweizer Alltags erklären, und wie sich die Religion im Schweizer Kontext praktizieren lässt.»
Dort treffen sich auch Vertreter politischer Parteien aus der Schweiz oder anderer Religionen, und man komme sich interreligiös näher. «Zwischen Christen, Juden und uns besteht vor allem in Zürich ein reger Meinungsaustausch», sagt er stolz gegenüber swissinfo.
Prägende Schweizer Umgebung
«Für Gemeindemitglieder organisieren wir Computer-Lektionen, für die Jugend Internet-Kurse.» Damit stärkten seine Schäfchen, in erste Linie Bosnier, aber auch Leute aus allen anderen Ländern Südosteuropas, ihre Integrationsfähigkeit, so Halilovic.
Er setzt die Integration ganz bewusst in Bezug zur Umgebung. Diese präge den Menschen stark, sagt er, und zwar institutionell wie gesellschaftlich.
So gebe es in der institutionellen Schweiz eine «typisch schweizerische Haltung gegenüber Religionen», die sich von jenen Ländern unterscheide, die stark von einer einzigen Religion geprägt seien. Dies wirke sich auch auf den Islam aus – im positiven Sinn.
Weder Allah noch der liebe Gott
Doch gegen gewisse gesellschaftliche Zwänge der Umgebung können weder Allah noch der liebe Gott etwas unternehmen: «Sowohl christliche Kirchen wie der Islam setzen sich für kinderreiche Familien ein. Doch was tun die Muslime, kaum sind sie in der Schweiz? Sie beginnen, die Geburten ihrer Kinder zu planen, und schränken ihre Kinderzahl ein.»
Und die vielen Nichtpraktizierenden? Für Halilovic sind das «kulturell gesehen Muslime. Sie kommen nur an Festtagen wie am Ramazan-Ende, am Bajram, in die Moschee und benehmen sich sonst nicht anders als nichtpraktizierende Christen.»
Probleme der Vertretung
«Südosteuropäer und Türken stellen zwar die Mehrheit der Muslime im Land», sagt er. «Doch haben wir oft das Gefühl, nicht entsprechend vertreten zu sein.» Die Stimme der Mehrheit der Muslime fehle. Und Halilovic fragt sich: «Sind wir Normalmuslime nicht interessant genug, zu wenig exotisch, oder ganz einfach nicht mediengerecht?»
Wobei er zugibt, dass die Muslime in der Schweiz alles andere als eine Einheit seien: «Ausser in fundamental religiösen Fragen, wo wir uns einig sind, sind wir grundsätzlich verschieden – eine Art einheitlicher Garten, aber mit vielerlei Blumen.»
Fundamental sei auch der Fehler, den Schweizer Politiker betreiben, wenn sie die Muslime nun als Einheit ansprechen wollen. Die Muslime in der Schweiz trenne ein «multipler Röschtigraben» untereinander: Erstens die vielen eigenen Sprachen, und dazu noch die Landessprachen der Schweiz.
Die Einwanderer verstehen sich ja oft nicht untereinander. Dass sich deshalb die religiösen Gemeinden auf Sprachbasis strukturieren, sei nichts als normal: «Schliesslich gibt es auch die Eglise française, die genauso katholisch ist wie die Missione cattolica der Italiener.»
Sprach- und Landeskenntnisse obligat für Imame
Umso wichtiger sei es deshalb, dass muslimische Geistliche die hiesigen Landessprachen beherrschen. Halilovic ärgert sich: Die Schweizer Politiker thematisierten dieses Manko ständig, und auch die Gläubigen wünschten sich Imame, die den Bezug zur Umgebung schaffen. «Doch konkret unternommen wird wenig.»
Vorschläge hätte er genug: Mögliche Ausbildungs-Verträge mit theologischen Fakultäten wie in Sarajevo, Kairo oder Ankara, was leicht zu bewerkstelligen wäre.
Auch gemischte Diplome seien denkbar – für Staatskunde- und Sprachfächer in der Schweiz, für die theologische Unterweisung in Bosnien, Ägypten oder woanders auf der Welt, wo es entsprechende Fakultäten gibt.
Er wünschte sich, so Halilovic, dass die Erziehungsbehörden von Bund und Kantonen allgemeingültige Standards für die Ausübung dieses Seelsorge-Berufs verlangten. Es sei schliesslich auch nicht jeder christliche Prediger gleich ein Pfarrer.
Die Ausbildung sei ein öffentlicher Dienst für alle Bürger und Steuerzahlenden, da sollten die steuerzahlenden Muslime nicht ausgenommen werden.
Bis zur Lösung dieser Ausbildungsfrage schlägt Halilovic vor, die bereits praktizierenden Imame in der Schweiz in Kurse zur jeweiligen Landessprache und in die Integration einzubinden.
swissinfo, Alexander Künzle
In der Schweiz leben rund 340’000 Muslime.
Rund 12% sind Schweizer Staatsbürger.
Ihre Zahl hat in den letzten Jahren zugenommen. Ihr Anteil an der Bevölkerung stieg von 2,2% 1990 auf 4,3% im Jahr 2000.
In der Schweiz sind drei Viertel der Bevölkerung Christen. Davon sind 42% Katholiken, 35% Protestanten und 2,2% andere christliche Bekenntnisse.
Die Mehrheit der Muslime in der Schweiz sind Südosteuropäer und Türken, die in der Deutschschweiz leben.
Ihre Gemeinden sind sprachlich organisiert, wie früher die katholischen Einwanderer ebenfalls.
Das bosnische Dzemat ist eine Art Kirchgemeinde, die aber mindestens einen Kanton umfasst. Sie ist kleiner als ein Bistum.
Der Aufbau der religiösen Institutionen ist auch bei anderen Muslimen ähnlich.
Ein Imam entspricht von der Funktion her einem Pfarrer (oder einem Rabbiner): Er predigt nicht nur, sondern trägt die Verantwortung für eine Gemeinde.
Südosteuropäer sind fast alle Sunniten. Unter den Türken gibt es auch viele Alewiten.
Schiiten gibt es kaum unter den Europäern, es ist die Glaubensrichtung vieler Iraker und der Iraner.
Die Mahmud-Moschee in Zürich, die einzige in der Deutschschweiz mit Minarett, ist seit Jahrzehnten etabliert. Doch diese islamische Bewegung (Ahmadiyya) ist innerhalb des Islam sehr klein und kommt aus Pakistan.
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