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«Mit der Kirche im Clinch»

Eine "Klagemauer" vor der Kirche in Einsiedeln. swissinfo.ch

In Einsiedeln findet zurzeit eine Europapremiere statt: eine alternative Wallfahrt. Viele Menschen, deren Verhältnis zur Religion und zur katholischen Kirche getrübt ist, fühlten sich angesprochen – und machten mit.

Sie erlebten eine offene, kritikfähige Kirche.

Jährlich verliert der Oberhirte Papst Johannes Paul II. unzählige Schafe aus seiner riesigen Herde. Den einen ist die katholische Kirche zu konservativ, den andern zu offen.

Einer, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und neue Wege beschreitet, ist Martin Werlen, Abt des Klosters Einsiedeln im Kanton Schwyz. Seit Amtsbeginn sucht der jugendlich wirkende Kirchenmann das Gespräch mit der Bevölkerung.

Neben den angestammten Kirchgängern interessieren ihn diejenigen, denen Spiritualität und Glauben nicht gleichgültig sind, die sich jedoch in der katholischen Kirche nicht (mehr) aufgehoben fühlen. Jene eben, die mit der Kirche im Clinch sind.

«Wir spüren, dass wir die Menschen, die uns angreifen, ernst nehmen müssen», sagt Werlen. Die Kirche erfülle die Erwartungen ihrer Getreuen nicht mehr.

Wallfahrt zum Mitdiskutieren

Junge und ältere Menschen pilgern diese Tage nach Einsiedeln, einem traditionellen Wallfahrtsort. Dort gibt es Diskussionen zu drei Themenbereichen: Kirche und Spiritualität, Kirche und Körper sowie Kirche und persönliche Meinung.

«Ich finde die Themen gut gewählt, sie sind wirklich aktuell», sagt Monika, eine 20-jährige Nidwaldnerin und eine der jüngsten Teilnehmerinnen. Sie macht mit, «weil ich das Unbehagen, das ich gegenüber der Kirche verspüre, in etwas Positives umwandeln will». Monika kritisiert vor allem das sehr enge Korsett, das Rom vorgebe.

Härter ins Gericht geht Stephanie Kaufmann aus Baden. Sie habe lange Zeit die Kirche als enormen Druck wahrgenommen, erzählt die gut 60-Jährige.

«Ich habe nie daran gedacht, aus der Kirche auszutreten. Doch es gab Momente, da litt ich unter der fehlenden Unterstützung, besonders nach dem Tod meines Mannes.»

Stephanie Kaufmann ist bei weitem nicht die Einzige, die sich während den Diskussionen meldet. Die Diskriminierungen werden beim Namen genannt.

«Ich bin total zerrissen», sagt eine andere Frau. «Wie kann ich in einer Kirche bleiben, die Frauen diskriminiert und Homosexuelle ausschliesst?»

Die Kritik reisst nicht ab: «Viele treten aus der Kirche aus, weil sie als Christinnen und Christen leben wollen. Die Kirche ist nicht mehr christlich.»

Ein anderer Teilnehmer widerspricht: «Man kann sich nicht mehr Christ nennen, wenn man aus der Kirche austritt. Man kann sich nicht einfach alle Optionen offen halten.» Man müsse unterscheiden, appelliert der Mann: «Rom ist nicht unsere Kirche.»

Clinchmauer – Klagemauer

Nicht alle wagen es, das Wort zu ergreifen. An der «Klagemauer» können sie dennoch ihre Anliegen platzieren.

«Wer erschuf wen? Gott den Menschen oder die Menschen Gott?», «Es soll mehr Kindergottesdienste geben und grössere Hostien.» Solche Sprüche finden sich an der Clinchmauer vor der Klosterkirche.

Das Prinzip der Klagemauer scheint zu funktionieren. Jedenfalls wird rege geschrieben – und vor der Mauer diskutiert. Verhütung, Zölibat, Hierarchie, Homosexualität, sexuelle Übergriffe in der Kirche sind oft genannte Stichworte.

Neben den Diskussionen und Vorträgen läuft in Einsiedeln gleichzeitig die Ausstellung «NOTWENDE – Votivgaben für die Schwarze Madonna von Einsiedeln». Im barocken Marstall des Klosters sind Votivgaben zu sehen und ab Kopfhörer Geschichten zu hören.

Es scheint, dass das Konzept von Abt Martin Werlen aufgeht. Wie formulierte er in seinem Vorwort zum Prospekt? «Unser Glaube ist frag-würdig. Er ist es würdig und wert, dass wir uns Fragen stellen dürfen.» Und Fragen werden viele gestellt in Einsiedeln.

swissinfo, Ariane Gigon Bormann und Brigitta Javurek, Einsiedeln

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