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Einem geheimnisvollen Wahlverfahren auf der Spur

Tre donne sorridenti mostrano uno scrigno in legno con otto cassetti
Patricia Brand, Catherine Guanzini und Libé Vos: Drei Frauen, die mit Leidenschaft eine Rekonstruktion schufen. swissinfo.ch

Das Projekt verbindet Forschung, Handwerk und Kunst. Am kommenden Samstag kann die Bevölkerung dort nacherleben, wie vor fast 250 Jahren in Yverdon eine Wahl stattgefunden hat. Im Zentrum des komplexen Verfahrens stand das Los.

Die drei Frauen, mit denen wir uns in Yverdon-les-BainsExterner Link treffen, freuen sich sichtlich. In historischen Kostümen findet die Wahl genau in dem Raum statt, in dem sie am 4. September 1775 über die Bühne ging.

Catherine Guanzini und Patricia Brand sind Archivare und Historiker.  Libé Vos ist Tischlerin, Künstlerin und Lehrerin. Sie sind für das Kulturprojekt verantwortlich, das der Öffentlichkeit eine wenig bekannte Seite der Schweizer Geschichte zeigt – und gleichzeitig ein aktuelles politisches Thema berührt: Die Wahl per Los.

Immer öfter wird in letzter Zeit gefordert, dass etwa Richter oder Kommissionsmitglieder durch Losentscheide und nicht durch Wahlen bestimmt werden sollen. Viele halten das Los für fairer. In der Schweiz wird das Volk auch zu einer Initiative Stellung nehmen müssen: Sie verlangt, dass Bundesrichterinnen und Bundesrichter nicht mehr von der Bundesversammlung gewählt, sondern durch das Los bestimmt werden sollen.

Überraschung in der Vergangenheit

Wenige aber wissen, dass dies früher vielerorts in der Schweiz bereits umgesetzt wurde. Selbst unter Historikern blieb das Thema lange unerforscht. Allgemeinen galt, dass die Los-Wahl schon viel früher aufgegeben worden war.

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«Dank eigener Nachforschungen und denen von anderen Historikern haben wir nun den Beweis, dass sich diese Praxis bis ins 18. Jahrhundert hielt», sagt Catherine Guanzini. Und dies auch in anderen Städten der Waadt sowie in anderen Kantonen. «Wir wissen nicht, wann die die letzte Auslosung in Yverdon stattfand. Aber noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie zur Erneuerung des Stadtrats genutzt.»

Mysteriöse Truhen

Am Anfang der Forschungen von Patricia Brand und Catherine Guanzini standen zwei Objekte aus der Sammlung des Museums von YverdonExterner Link, datiert auf das 18. Jahrhundert: Von beiden raffinierten, fein verarbeiteten Holzkisten war vage bekannt, dass es sich um Wahlurnen handelte. Aber wie wurden sie verwendet? Wie wurden damit Wahlen durchgeführt?

Holzkonstruktion
@MY, Fibbi-Aeppli, Grandson
Holzkonstruktion
@MY, Fibbi-Aeppli, Grandson

Im Stadtarchiv gefundene Dokumente belegten, dass die Truhen in Yverdon «Urnen» genannt wurden. Sie dienten offenbar bei der Wahl der Stadtverwaltung und und bei Zuweisung gewisser Funktionen.

Reine Männerwahl

Yverdon war damals eine gleichnamige bernische LandvogteiExterner Link und zählte im 18. Jahrhundert rund 2’500 Einwohner. Die Stadtverwaltung bestand aus zwei Räten: dem Zwölfer Rat, der zwei- bis dreimal pro Woche tagte und für alle wesentlichen Geschäfte zuständig war, und dem Vierundzwanziger-Rat, der die Rechnungsführung prüfte und viermal jährlich in einer gemeinsamen Versammlung mit dem Zwölferrat tagte.

Damals – weit entfernt von heutigen Vorstellungen einer gerechten Demokratie – waren es die Ratsherren selbst, die jedes neue Mitglied wählten, wenn ein Sitz frei wurde: Männer, Patrizier von Yverdon, reich und mindestens 25 Jahre alt. Das waren die Voraussetzungen.

Solche Wahlen erfolgten in der Regel nach dem Tod eines Ratsherrn, wie im Fall des 4. September 1775. Sehr selten auch im Falle eines krankheitsbedingten Rücktritts, denn das Mandat war auf Lebenszeit.

Gute Wahlkugeln, und schlechte

Die Durchführung der Wahl wurde durch eine Verordnung diktiert, die ein strenges Protokoll vorschrieb. In den verschiedenen Phasen wurden die Kandidaten mit der niedrigsten Stimmenzahl bis zur Ernennung des neuen Ratsherrn eliminiert. In den verschiedenen Phasen mussten die Wähler, also die 35 amtierenden Ratsmitglieder, jeweils eine Wahlkugel aus einer Tasche ziehen. Anschliessend mussten sie diese in das Loch über der Wahlurne mit dem Namen des Kandidaten einführen, den sie wählen wollten.

Einige der Wahlkugeln waren golden, die anderen weiss: Erstere wurden als «gut» bezeichnet, sie hatten eine Stimme, letztere als «schlecht», sie wurden nicht gezählt. Jeder musste seine eigene Wahlkugel in die Urne legen, auch diejenigen, die eine weisse gezogen hatten.

Die Urne wurde in einem Zelt platziert, geschützt der neugierigen Blicken. «Schon damals gab es Bedenken hinsichtlich der Sicherheit und Geheimhaltung der Abstimmung», sagt Catherine Guanzini.

Komplizierte Rekonstruktion

Nachdem das Geheimnis der Urne gelüftet war, standen die beiden Historiker vor einer weiteren Herausforderung: Wie kann man eine Nachbildung eines so raffinierten Objekts anfertigen? Hier kam die dritte Frau ins Spiel: Künstlerin Libé Vos. «Ich hatte die beiden Urnen bereits vor fünfzehn Jahren restauriert. Nun interessierte mich, herauszufinden, wie sie verwendet wurden», sagt der Schreinerin.

Dass es so kompliziert werden würde, war dann doch eine Überraschung. «Es war ein unglaubliches, aber sehr faszinierendes Rätsel», sagt Libé Vos. Mindestens 200 Stunden müsse sie für das Projekt aufgewendet haben, schätzt sie rückblickend.

urna per ballotte, in legno, del XVIII secolo con otto cassetti
Originale Wahlurne aus dem 18. Jahrhundert im Historischen Museum Bern. © Bernisches Historisches Museum All Rights Reserved

Und hier ist ein Bild des Resultats:

Replica di un urna per ballotte del XVIII secolo con otto cassetti
Nachbau der Wahlurne aus dem 18. Jahrhundert. @Henri Guanzini-Photographe

Jetzt kommt dieses Werk quasi zur Aufführung. Das Projekt weist jedoch weit über die Magie der Erinnerung an einen historischen Moment hinaus: Die Forschung von Catherine Guanzini und Patricia Brand ist nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die lokale Geschichte dieser Zeit von Wert. Die Ergebnisse werden künftig auch für Bildungszwecke genutzt.

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