«Religiöse Bauten dienen der sozialen Integration»
Die einen laufen Sturm gegen den Bau von Minaretten, die anderen begrüssen die religiöse Vielfalt in der Schweiz als Bereicherung. Der Religionswissenschafter Martin Baumann über ein neues Phänomen.
Das von der Universität Luzern herausgegebene Buch «Eine Schweiz – viele Religionen» untersucht Risiken und Chancen des Zusammenlebens und wendet sich an eine breite Öffentlichkeit.
In den letzten drei Jahrzehnten hat die religiöse Vielfalt in der Schweiz markant zugenommen. Rund 80% der Muslime, Buddhisten und Hindus in der Schweiz sind Zuwanderer aus den 1980er- und 1990er-Jahren.
Der Religionswissenschafter Martin Baumann untersucht mit einer Forschungsgruppe der Universität Luzern die Auswirkungen von religiösen Bauten auf die Integration von Zuwanderern.
swissinfo: Sie stellen fest, dass es parallel zur religiösen Pluralisierung in der Schweiz eine Entwicklung hin zu mehr Säkularisierung gibt. Wird Religion in der Schweiz nun gesellschaftlich wichtiger oder weniger wichtig?
M.B.: Gesamtgesellschaftlich wird die Religion weniger wichtig. Die offizielle Kirche hat nicht mehr das Deutungsmonopol, ihre Stimme zählt in der Gesellschaft weniger als früher. Bei sozialer Ungleichheit oder Arbeitslosigkeit ist die Kirche eine Stimme unter vielen anderen.
Andere Stimmen etwa von Gewerkschaften und politischen Kreise sind ebenso wichtig. Für den einzelnen verliert die Religion allerdings nicht an Bedeutung. Für die religiös Aktiven ist Religion weiterhin eine wichtige Stütze für die Orientierung im Leben.
swissinfo: Warum ist die Religion bei Muslimen in der Schweiz ein so dominantes Thema?
M.B.: Bei vielen Muslime aus Albanien oder Bosnien gewinnt die Religion in der Emigration an Bedeutung. Sie ist ein Stück Heimatersatz. Allerdings sind nicht alle Zuwanderer religiös, einige sehen das Leben in der Fremde als eine Befreiung von den sozialen Kontrollen der Religion.
swissinfo: Wie wird die religiöse Vielfalt heute in der Schweiz tendenziell bewertet?
M.B.: Jetzt im Wahljahr tendiert die Stimmung Richtung Abwehr, Bewahrung des Eigenen, Zurückschrauben der Pluralität, weil diese als Gefährdung der schweizerischen Identität gesehen wird. Das zeigt sich etwa im Widerstand gegen den Bau von Minaretten und ist gegen das Sichtbarwerden des Islams in der Öffentlichkeit gerichtet.
Es gibt andere Akteure, Gesprächskreise oder politische Gruppen, die sagen: Nein, wir brauchen Neuerungen, neue Impulse, eine Offenheit. Die setzen auf Vielfalt.
swissinfo: Die zugewanderten Religionen geniessen in der Schweiz unterschiedliche Akzeptanz. So wurde in Langenthal gegen ein geplantes Minarett protestiert und gleichzeitig die Einweihung eines Sikh-Tempels mit Wohlwollen verfolgt. Warum löst gerade der Islam so viel Abwehr aus?
M.B.: Der Islam ist von den zugewanderten Religionen die grösste. Im Vergleich zum Christentum gibt es theologische Diskrepanzen, ausserdem ist das Verhältnis historisch belastet. In gewissen Extremfällen eignet sich der Islam sehr gut als Folie für die Projektion von Feindbildern. Das wird in der Schweiz politisch hochstilisiert.
Von muslimischer Seite hat man zwar versucht, dem etwas entgegen zu halten etwa mit der Verurteilung der Terroranschläge, doch diese Stimmen gelangten nicht in die Presse. Der Islam hat generell, nicht nur in der Schweiz, ein schlechtes Image.
swissinfo: Wie wirkt sich die Minarett-Initiative auf den Religionsfrieden aus?
M.B.: Die Minarett-Initiative ist selbst eine Störung des Religionsfriedens. Kurzfristig wirkt sie desaströs, auch für die Aussendarstellung der Schweiz.
Aber längerfristig betrachtet, hat dieser Konflikt einen Effekt, den die Minarett-Gegner wohl nicht beabsichtigten: Die Muslime werden jetzt als gesellschaftliche Kräfte wahrgenommen und können ihre Position darlegen. Es wird jetzt nicht mehr nur über sie gesprochen, sondern auch mit ihnen.
swissinfo: Grosse Bevölkerungskreise fühlen sich von fremden religiösen Symbolen bedrängt. Ist die Schweizer Identität in Gefahr?
Wir hatten interessanterweise eine ähnliche Diskussion vor einem Jahrhundert, als die Juden in der Emanzipation nach aussen drängten und volle Staatsbürger wurden. Die Schweiz hat hier bereits Erfahrungen gesammelt, dass eine solche Emanzipation einer anderen Religionsgemeinschaft nicht zum Zerfall des Landes führen muss.
swissinfo: Wirken Moscheen, Tempel und andere religiöse Bauten als Grenze oder als Brücke zwischen den Einwanderern und den Einheimischen?
M.B.: Immigranten, die sich bildungsmässig oder beruflich emanzipiert haben, tendieren dazu, ihre ethnischen Kolonien wieder zu verlassen. Diese dienen oft nur als Durchgangsstation. Moscheen, Tempel oder Kirchen von Zuwanderern sind weit mehr als nur religiöse Stätten, sondern haben eine wichtige soziale Funktion.
Hier wird Integrations- und Eingliederungsarbeit geleistet. Ich sehe bei Moscheen und anderen religiösen Bauten keineswegs eine desintegrative Funktion, sondern im Gegenteil ein grosses Integrationspotential.
swissinfo-Interview: Susanne Schanda
Religionszugehörigkeit in der Schweiz:
Römisch-Katholiken: 42%
Christ-Katholiken: 0,2%
Evangelisch-Reformierte (mit Freikirchen): 33%
Christlich-Orthodoxe (serbische, russische, mazedonische, griechische): 1,8%
Anglikanische Kirchen: 0,1%
Muslime: 4,3%,
Juden: 0,2%
Buddhisten: 0,3%,
Hindus: 0,4%.
Andere religiöse Gemeinschaften: 0,1%
Ohne Religionszugehörigkeit: 11%
(Basis: Eidgenössische Volkszählung 2000)
Martin Baumann ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Luzern.
Seine Schwerpunkte sind Hinduismus und Buddhismus im Westen, Globalisierung, Migration und Religionspluralismus.
Das Buch: Martin Baumann, Jörg Stolz (Hg.): Eine Schweiz – viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens. Transcript Verlag 2007.
Das Zentrum Religionsforschung (ZRF) der Universität Luzern untersucht religiöse Bauten zugewanderter Religionen in der Schweiz.
Im Zentrum steht die Fragestellung nach der sozialen Funktion von Kirchen, Moscheen, Synagogen, buddhistischen Bauten, Sikh- und Hindu-Tempel für die jeweiligen Glaubensgemeinschaften.
Das ZRF untersucht, inwiefern diese Bauten die Integration der Migrantinnen und Migranten fördern, wie zentral oder peripher die Bauten in den Schweizer Städten geografisch situiert sind, welche religiösen Bauten in der einheimischen Schweizer Bevölkerung Widerspruch erregen, welche nicht und warum das so ist.
Im Sommer 2008 soll die Dokumentation abgeschlossen sein. Sie wird dann im Internet publiziert.
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