Sexualerziehung oder der Abschied von den Bienlein
Sensibilisierung schon im Vorschulalter und obligatorischer Sexualkundeunterricht: Dies zwei der Säulen einer differenzierten Sexualerziehung, wie sie die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) fordert.
Gruppen von Pubertierenden, die eine ebenfalls Minderjährige vergewaltigen und Bilder davon als «Trophäe» per Handy an ihre Kollegen schicken: Solche negativen Fälle, insbesondere, wenn sie von Medien unter dem Etikett «Generation Porno» etc. breitgetreten werden, sind einer sachgerechten Sexualerziehung nicht förderlich, wie sie die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen propagiert.
Jugendliche sind heute auf Schritt und Tritt mit Sexualität konfrontiert, im realen wie im virtuellen Leben, dank Werbung und neuen Medien Internet und Handy.
Und trotzdem: Jugendliche sind heute sexuell nicht grundsätzlich erfahrener als vor 20 Jahren. Zu diesem Schluss kommen die Autorinnen und Autoren des Kommissions-Berichts «Jugendsexualität im Wandel der Zeit – Veränderungen, Einflüsse, Perspektiven».
«Wir sind überrascht, wie spät die Pubertierenden zum ersten Mal Geschlechtsverkehr haben», sagte Nancy Bodmer, Leiterin der Arbeitsgruppe «Sexualität» innerhalb der EKKJ. Erst unter den mehr als 17-Jährigen verfüge eine Mehrheit über Erfahrungen mit Geschlechtsverkehr.
Erfreuliche Erkenntnisse
Auffallend sei zudem, dass rund 85% der von der EKKJ befragten Jugendlichen angegeben hätten, bei ihrem ersten sexuellen Kontakt ein Verhütungsmittel angewendet zu haben.
Trotz dieses erfreulichen Zeugnisses von verantwortungsvollem Umgang mit Sexualität tue eine umfassendere und einheitlichere Sexualerziehung not, kommt die Kommission zum Schluss.
Eine Minderheit der befragten Jugendlichen zeigte Anzeichen eines aggressiven Sexualverhaltens. Oder glaubte an Mythen wie etwa denjenigen, dass 13-Jährige noch keine Kinder zeugen oder schwanger werden könnten, berichtet Bodmer.
Kleine «Dummheit», grosses Gefahrenpotenzial
EKKJ-Präsident Pierre Maudet illustriert den Handlungsbedarf an einem Fallbeispiel: Ein siebenjähriger Junge aus intakten Familienverhältnissen fotografierte mit dem Handy seine kleinere, nackte Schwester. Die Bilder schickte er auf die Handys seiner Freunde weiter. Von dort fanden sie irgendwie den Weg ins Internet.
«Schon ganz Kleine beweisen eine begrüssenswerte technische Gewandtheit, sich moderner Kommunikationsmittel zu bedienen. Ihnen fehlt aber die Vorstellung, welche Gefahren sie damit heraufbeschwören können», sagt Maudet, der in der Genfer Stadtregierung das Departement für Umwelt und Sicherheit leitet.
Sexualerziehung müsse umfassender werden, gerade angesichts der allgegenwärtigen Macht der Bilder, fordert Maudet. «Es reicht nicht mehr, die Kleinen über die Funktion der Fortpflanzungsorgane aufzuklären. Es geht auch um Wahrung der Privatsphäre und das Bewusstsein, dass der Körper mir gehört und nicht anderen.»
Schon im Kindergarten
Eltern und Schulen sollten deshalb aktiver werden. Eine Forderung, die nicht neu ist. Neu dagegen ist, was Nancy Bodmer rät: «Eltern sollen mit ihren Kindern bereits im Kindergartenalter über das Thema Sexualität sprechen, statt Angst zu haben, schlafende Hunde zu wecken.»
Droht angesichts solch komplexer Fragen nicht die Überforderung von Eltern und Kinder? Gerade angesichts des Faktums, dass viele Familien nicht mehr «funktionieren» und oft die Schule zusätzliche Erziehungsaufgaben übernehmen muss?
«Mit unserer Forderung nach obligatorischer Sexualerziehung für alle Schülerinnen und Schüler in der Schweiz durch spezifisch ausgebildete Fachpersonen wollen wir genau dies verhindern», antwortet EKKJ-Präsident Pierre Maudet.
Niederschwellige Angebote
Unverzichtbarer Bestandteil einer Erziehung zu einem respektvollen und verantwortungsbewussten Umgang mit Sexualität sind laut Jugendkommission spezifische Informationsplattformen im Internet.
Seriöse Seiten wie tschau.ch in der Deutschschweiz und ciao.ch in der Westschweiz böten den Jugendlichen jederzeit Antworten auf Fragen und im Bedarfsfall auf professionelle Hilfe. Gerade auch im Sinne der Qualitätssicherung müssen diese Schnittstellen finanziell stärker gefördert werden, verlangt die Kommission.
Renat Künzi, swissinfo.ch
Grundsatzforderung der Eidg. Jugendkommission: Weg von Pauschalurteilen, hin zu respektvollem und differenziertem Blick.
Alle Jugendlichen in der Schweiz müssen Unterricht in Sexualerziehung besuchen, der von speziell ausgebildeten Fachpersonen gegeben wird.
Eine differenzierte Sicht auf die Medien erfordert eine Förderung der Medienkompetenz von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Lehrpersonen.
Für eine differenzierte öffentliche Diskussion braucht es regelmässige Studien zur Jugendsexualität.
Die stark sexualisierte Werbung muss auf Kinder und Jugendliche Rücksicht nehmen.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch