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Tessiner Carnevale

Rabadan in Bellinzona. www.rabadan.ch

An diesem Wochenende treibt der Tessiner Karneval seinem Höhepunkt entgegen. An vielen Orten ist er allerdings schon vorbei. Denn die Narrensaison im Tessin wird immer länger.

Um sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen, antizipieren viele Gemeinden ihren Carnevale. Zunehmende Kommerzialisierung bestimmt eine Tradition, die nach Expertenmeinung trotzdem noch stark im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist.

Am «Schmutigen Donnerstag», (27.2.), ist es in Bellinzona soweit. König Rabadan übernimmt mit seinem Hofstaat die Schlüssel der Stadt, um den Narren freie Hand zu lassen. Dann steht die Welt Kopf: Il mondo alla rovescia. Aus Bellinzona wird die Monarchie «Chiodopoli», so genannt nach seinen Bewohnern, den «chiodi» (Nägeln). Und in den Festzelten fliesst reichlich Wein und Bier.

Der Karneval der Tessiner Kantonshauptstadt ist nicht nur der wichtigste und bekannteste der Südschweiz, er fällt auch noch auf den aus dem Volksbrauch bekannten Zeitraum: Die wenigen Tage vor Aschermittwoch, am dem die 40-tägige, vorösterliche Fastenzeit beginnt.

Was eigentlich wie eine Selbstverständlichkeit anmutet, ist im Tessin längst nicht mehr. Immer mehr Gemeinden ziehen ihre Karnevals-Feste vor. Häufig geht das närrische Treiben schon im Januar los, selbst wenn der Aschermittwoch erst spät datiert. Konfetti, Masken und Guggen sind dann irgendwo für einige Tage präsent, während in den Nachbargemeinden Ruhe herrscht.

Karneval als Business

Grund für die Ausdehnung der Saison sind vorab kommerzielle Überlegungen. Denn die Veranstalter versuchen, gegenseitige Konkurrenz zu vermeiden. Zumal sich der Schwerpunkt des Karnevals, der einer ländlich-bäuerlichen Tradition und lokalen Identität entstammt, zusehends in die grösseren Städte verlagert hat.

Die grossen Umzüge von Bellinzona und Chiasso sind inzwischen kantonsweite Attraktionen, die zeitgleich organisierte Veranstaltungen in kleinen Lokalitäten bedrohen. Der Karneval ist ein Business, bei dem eine Menge Geld auf dem Spiel steht. Allein der Rabadan von Bellinzona, dessen Hauptumzug sogar vom Fernsehen TSI live übertragen wird, weist ein Budget von einer halben Million Franken auf; der Umsatz während der närrischen Tage beträgt ein Vielfaches.

Die Ausdehnung der Saison kann befremdlich wirken. Doch sie ist durchaus kompatibel mit der religiösen Tradition des Carnevale. Die Karnevalszeit fängt bereits am Dreikönigstag (6. Januar), an, wie Ottavio Lurati, Professor für Linguistik am Romanischen Seminar der Universität Basel und profunder Kenner des Tessiner Brauchtums, erklärt.

Karneval im Sommer

Da die religiöse Bedeutung – eine letzte Völlerei vor der Fastenzeit – des Karnevals abnehme und die touristisch-kommerzielle Bedeutung zunehme, sei die Versuchung gross, das Zeitfenster grosszügig ausnutzen. Ein Studie des Dialektzentrums der italienischen Schweiz zeigt auf, dass die Karnevalsperiode früher an einigen Orten sogar bereits am Stephanstag (26.Dezember) mit dem Ende des Weihnachtsfestes einsetzte.

Der Direktor dieses Zentrums, Franco Lurà, erinnert daran, dass die kommerzielle Ausschlachtung des Karnevals keine Erfindung der letzten Jahre ist: «In Ascona hat man 1954 und 1956 versucht, einen Sommerkarneval für Touristen auf die Beine zu stellen.» Und Muralto kam noch im Juni 1987 auf diese abstruse Idee. Lurà bedauert diese Entwicklung, «ohne die Vergangenheit verklären zu wollen». Für ihn ist die Verlängerung der Karnevalssaison genau so absurd wie die Tatsache, dass Weihnachtsgebäck und Ostereier immer früher in den Ladenregalen stehen.

Für Ottavio Lurati erfüllt der Tessiner Karneval trotz aller Kommerzialisierung noch ein wichtiges soziales Element: «Das Fest ist tief im Bewusstsein der Bevölkerung verankert.» Dazu gehört auch das traditionelle Risotto-Essen unter freiem Himmel. Dies entstand im 19.Jahrhundert als Wohltätigkeitsgeste der Reichen an die Armen, die sich den damals teuren Reis nicht leisten konnten.

Ambrosianischer Ritus

Bis heute rühren häufig der Gemeindepräsident selber oder andere Exekutivmitglieder mit den Holzlöffeln in den riesigen Kochtöpfen, um sich in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Und am Tisch isst man gemeinsam, ungeachtet politischer Coleur oder alter Rivalitäten.

All diejenigen, die bis zum Aschermittwoch nicht genug haben vom Carnevale, dürfen noch Nachfeiern. In der Region Tre Valli (Leventina, Bleniotal), der Capriasca (Tesserete) und in Brissago wird der ambrosianische Karneval begangen, der bis zum Samstag nach Aschermittwoch dauert.

Verärgerte Dorfpfarrer

Die genannten Gebiete gehörten im Mittelalter zum Bistum Mailand, während die Reste des heutigen Tessins vom Bistum Como abhängig waren. Obwohl die Bistumsgrenzen vor 150 Jahren verschwunden sind, erwachen sie zur Narrenzeit zu neuem Leben. So wird der Karneval in einem Teil des Tessins nach ambrosianischem und nicht nach dem römischen Kalender gefeiert.

Während die heutigen Veranstalter die Verlängerung des römischen durch den ambrosianischen Karneval begrüssen, war sie den Dorfpfarrern früherer Generationen ein Dorn im Auge. Es gibt sogar Zeugnisse von Priestern des Bistums Como, die diesen «Missbrauch» angeprangert haben und ihren Schäfchen ausdrücklich verboten, während des Karnevals einen Fuss auf ambrosianisches Terrain zu setzen.

swissinfo, Gerhard Lob

Die meisten Karnevalsveranstaltungen im Tessin finden dieses Jahr zwischen dem 27. und 4.März statt.

Der wichtigste Karneval «Rabadan» wird in Bellinzona, der Kantonshauptstadt, gefeiert.

An Orten mit ambrosianischem Ritus – Biasca, Tesserete, Brissago – dauert der Karneval bis zum Samstag nach Aschermittwoch.

Volks-Risottoessen sind während des Karnevals üblich.

Der Tessiner Karneval steuert auf seinen wichtigsten Tage zu. Zum Zentrum der Narren wird vorab Bellinzona, das sich in die Monarchie Chiodopoli verwandet. Chiasso wird zur Nebel-Republik Nebiopoli. Viele andere Gemeinden, insbesondere kleinere Dörfer, haben das närrische Treiben hinter sich. Denn sie halten sich längst nicht mehr an die der Volkstradition entsprechenden Periode zwischen dem Schmutzigen Donnerstag und Aschermittwoch, wenn die 40-tägige vorösterliche Fastenzeit beginnt. Dies hat vor allem kommerzielle Gründe, um sich nicht gegenseitig Konkurrenz zu machen. Experten kritisieren die Verlängerung der Karnevalsperiode, halten sie aber durchaus kompatibel mit der christlichen Tradition. Erfolglos endeten indes Versuche, einen Karneval für Touristen im Sommer einzuführen.

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