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Tibet in Rikon, Kanton Zürich

Das Kloster in Rikon: Wichtig für Exil-Tibeter in der Schweiz. swissinfo.ch

Aus Anlass des 45. Jahrestages des tibetischen Volkaufstandes von 1959 haben Exil-Tibeter am Mittwoch vor der chinesischen Botschaft in Bern demonstriert.

Nach dem damaligen Einmarsch Chinas waren viele Tibeter ins Ausland geflüchtet, auch in die Schweiz. swissinfo zu Besuch bei Exil-Tibetern in Rikon.

Der erste Kontakt ist Zufall: Ich sitze in einem Restaurant im Stadtzentrum von Winterthur, es ist Mittag. Die Gaststätte hat einen typisch schweizerischen Namen und sieht auch typisch schweizerisch aus, der Geschmack von Zürcher Geschnetzeltem und Bratwurst mit Zwiebelsauce liegt mir bereits auf der Zunge.

Doch die Menukarte überrascht: Neben den herkömmlichen Deutschschweizer Gerichten sind tibetische Spezialitäten aufgelistet.

Dieser erste Kontakt mit Exil-Tibet besteht aus «Momo», einer Art dampfgegarter Tortelloni mit Fleisch oder Gemüse, und einem Gespräch mit der Wirtin, einer Frau mittleren Alters tibetischer Herkunft.

«Als ich in die Schweiz kam, war ich fünf Jahre alt», sagt sie. «Wenn du Tibeter kennen lernen willst, gehst du am besten nach Rikon.» In der Tösstaler Gemeinde Rikon, Kanton Zürich, steht seit 1968 das erste und bisher einzige tibetische Kloster der Schweiz.

Mit Unterstützung des Roten Kreuzes

Heute ist die tibetische Gemeinschaft der Schweiz mit über 3000 Mitgliedern die grösste Europas und nach Indien und den Vereinigten Staaten die drittgrösste der Welt.

«Die meisten von uns kamen vor 40 Jahren in die Schweiz», erzählt Jampa Tsering, die Präsidentin der Gemeinschaft. «Zu Beginn der Sechzigerjahre half das Rote Kreuz vielen Tibetern, die Flüchtlingslager in Indien zu verlassen und als Flüchtlinge in der Schweiz aufgenommen zu werden.»

Tsering reiste 1998 von Indien in die Schweiz. «Meine Eltern hatten dort nach den Volksaufständen 1959 Zuflucht gefunden. Später habe ich in der Schweiz geheiratet, und jetzt arbeite ich in einer Fabrik.»

Flaggen im Schulhof

Jampa Tsering gehört zu den rund 300 Tibeterinnen und Tibetern, die das Gesicht der kleinen Gemeinde Rikon (1500 Einwohner) mitprägen.

«Ja, hier leben tatsächlich viele Tibeter, doch die Integration war eigentlich kein Problem», erklärt Andreas Meyer, Gemeindeschreiber von Rikon. «Es sind gebildete und zurückhaltende Leute.»

Im Strassenbild sind sie nicht zu übersehen. Tibetische Fahnen flattern nicht nur in manchen Gärten, sondern auch auf dem Pausenplatz der Dorfschule. Und wer in Rikon den Passanten ins Gesicht schaut, wähnt sich ab und zu am Fusse des Himalaja.

«Mittlerweile haben viele dieser ehemaligen Flüchtlinge den Schweizer Pass», erzählt Tsering. Doch die Kultur und die Bräuche des Tibet spielten nach wie vor eine wichtige Rolle, vor allem für die ältere Generation.

«Wir finanzieren sieben tibetische Schulen in der ganzen Schweiz, publizieren eine Zeitschrift und organisieren traditionelle Feste.» Damit versucht die Gemeinschaft, eine Sprache und eine Kultur vor dem Untergang zu bewahren, die, so Tsering, im Würgegriff der chinesischen Genossen wenig Überlebenschancen habe.

Die acht Mönche von Rikon

Das Kloster thront auf einem Hügel bei Rikon. «Für die Exil-Tibeter ist dies ein wichtiger Ort. Ich komme oft hierher, um zu beten», erzählt Tsering beim Abschied.

Das Kloster wurde vor rund 40 Jahren mit Unterstützung des Dalai Lama gegründet, um der wachsenden Tibeter-Diaspora in der Schweiz Halt und Zuversicht zu geben.

Auf den ersten Blick wirkt das Gebäude nicht besonders orientalisch: Ein weisser Betonblock an einem steilen Abhang, geschmückt mit zahlreichen Gebetsfähnchen, dazu mitten im Wald ein Stupa, ein kleiner buddhistischer Tempel.

Im Kloster leben acht buddhistische Mönche, die – neben der Pflege religiöser Rituale – Meditation und tibetische Sprache lehren.

Einer davon ist Tokhang Khedup, der uns den Altar zeigt, vor dem er jeden Morgen seine Gebete verrichtet. Khedup ist Schweizer Bürger. «Ich lebe seit 1969 hier. Jede Woche besuchen uns zwischen 10 und 30 Menschen, mehrheitlich Tibeter, aber auch Schweizer, die sich für unsere Geschichte, Religion und Kultur interessieren.»

Voller Stolz erzählt er von den insgesamt zehn Besuchen des Dalai Lama. «Das letzte Mal war er 1998 hier», erzählt der ältere Mönch. «Wir Mönche und mit uns die ganze Schweizer Tibeter-Gemeinschaft hoffen, ihn bald wieder zu sehen.»

swissinfo, Marzio Pescia, Rikon
(Übertragung aus dem Italienischen: Maya Im Hof)

Nach 1959 flohen über 150’000 Tibeterinnen und Tibeter ins Ausland.
Die Schweiz beherbergt die drittgrösste tibetische Gemeinschaft – nach Indien-Nepal und den USA.

Das Hochland Tibet liegt zwischen 4000 und 6000 Meter über Meer, zwischen Indien, Myanmar (dem früheren Birma) und China.

Tibet ist rund 1’200’000 km2 gross (Schweiz: 41’000km2) und zählt ca. 2,5 Mio. Einwohner.

1903 wurde der Tibet von britischen Truppen besetzt. 1950 folgte kurz nach der Vereinigung Chinas der Einmarsch – nach chinesischer Sprachregelung die Befreiung – der Truppen Mao Tse-tungs.

1959 versuchte sich das tibetische Volk in einem ersten grossen Aufstand gegen die Chinesen zu erheben. Der 14. Dalai Lama, der geistige Vater der Tibeter, floh nach Indien.

Der Dalai Lama gründete in Indien eine Exilregierung. Seitdem fordert er die Unabhängigkeit Tibets.

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