Die Demo in den eigenen vier Wänden
Zum ersten Mal seit 130 Jahren kann der Tag der Arbeit in der Schweiz nicht in der Öffentlichkeit gefeiert werden. Die Pandemie zwingt Gewerkschaften, Parteien und soziale Bewegungen, neue Formen der Mobilisierung neu erfinden. Die traditionellen Umzüge haben sich nun in den virtuellen Raum verlagert.
Die Schweiz wird normalerweise nicht mit der Geschichte der Arbeiterbewegung in Verbindung gebracht – zumindest nicht in den Augen von oberflächlichen Beobachtern. Und doch ist sie vielleicht das einzige Land der Welt, in dem der Tag der Arbeit, der 1. Mai, seit 1890Externer Link ununterbrochen gefeiert wird – mit Höhen und Tiefen.
Natürlich ist diese lange Tradition nicht unbedingt der Stärke der Schweizer ArbeiterbewegungExterner Link zu verdanken – auch wenn sie nicht irrelevant ist –, sondern der Tatsache, dass die Schweiz mehr oder weniger vor den Konflikten und politischen Umwälzungen bewahrt blieb, welche die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägten.
Es stimmt, dass die Behörden während des Zweiten Weltkriegs die Feierlichkeiten am 1. Mai auf verschiedene Weise behinderten, wie der Historiker Bernard Degen zu bedenken gibt: «In Genf waren öffentliche Demonstrationen während des Kriegs verboten, und die Feiern fanden in geschlossenen Räumen statt; anderswo griffen die Behörden auf die Zensur von Parolen und Transparenten zurück, sogar präventiv, um Friktionen mit den faschistischen Regimes in den Nachbarländern zu vermeiden.»
Dennoch wurde der 1. Mai während des Kriegs auch öffentlich gefeiert, wenn auch mit entspannteren Tönen als sonst. Doch was weder Bosse noch die Faschisten noch die Kriege schafften, gelang jetzt dem Coronavirus: Am 1. Mai 2020 wird auf den Schweizer Plätzen Stille herrschen. Keine Slogans und Reden, keine Musik, keine Würste, kein Bier.
Vom realen zum virtuellen Platz
In der pandemiegefährdeten Schweiz sind öffentliche Demonstrationen derzeit verboten. Der 1. Mai kann nicht in der Öffentlichkeit gefeiert werden. «Und diesmal sind auch die Gewerkschaften, anders als in den Kriegsjahren, damit einverstanden», sagt Degen, vielleicht mit einem Hauch von Ironie.
Die Gewerkschaften und linke Organisationen machen nun aus der Not eine Tugend und verlegen die Feierlichkeiten zum Tag der Arbeit in die virtuelle Öffentlichkeit. So bietet der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) eine Reihe von Streaming-VeranstaltungenExterner Link an.
Ohne gemeinsames Singen kann aber kein 1. Mai über die Bühne gehen, herrscht doch in der Arbeiterbewegung eine lange Gesangstradition. Um 11 Uhr lädt der SGB Zürich seine Unterstützerinnen und Unterstützer ein, sich vom Balkon aus lautstark für menschenwürdige Löhne für alle einzusetzen. Und das Komitee vom 1. Mai in Zürich überträgt Reden und Debatten über die Wellen von Radio LoraExterner Link.
«In den Online-Diskussionen werden wir zahlreiche Fragen im Zusammenhang mit der aktuellen Situation ansprechen», sagt SGB-Sprecher Urban Hodel. «Die Pandemie schafft viele Unsicherheiten, und wir stehen vor neuen Fragen. Noch nie zuvor haben wir am 1. Mai so viele Themen angesprochen.»
Doch ist die Gewerkschaftsbasis bereit für diesen Schritt in Richtung Digitalisierung? «Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich», sagt Hodel. «Aus Altersgründen haben einige unserer Mitgliederorganisationen keine besondere Affinität zu digitalen Tools. Aber in den letzten Jahren haben die Gewerkschaften viel Erfahrung mit der Nutzung sozialer Netzwerke gesammelt.»
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Warum am 1. Mai demonstrieren?
Wo steigt die Party?
Was eher fehlt, ist der gesellige Moment. Degen weist darauf hin, dass der 1. Mai schon immer zwei Aspekte hatte: einerseits den gewerkschaftlichen und politischen Anspruch, andererseits den sozialen – die Tatsache, sich zu treffen, zusammen zu sein. Dieses Jahr wird keine Party steigen. Dabei bleibt der 1. Mai, besonders jener in Zürich, nach wie vor ein beliebter Feiertag.
«Viele Aktivistinnen und Aktivisten verdienen mit ihren Essensständen auch etwas Geld», sagt Bruna Campanello, eine Angestellte der Gewerkschaft Unia, die seit Jahren dem Organisationskomitee für den 1. Mai in Zürich angehört.
Aber die Sorgen der Organisationen und linken Aktivistinnen und Aktivisten liegen jetzt woanders: «Verantwortungsvoll haben wir die wegen der Pandemie auferlegten Einschränkungen akzeptiert. Aber es ist uns allen klar, dass der Kampf härter werden und der Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter wachsen wird», sagt Campanello.
Und sie zitiert ein Beispiel mit starkem Symbolwert: Der Kanton Thurgau – einer der wenigen Schweizer Kantone, in denen der 1. Mai ein Feiertag ist – hat beschlossen, dass Unternehmen, die ihren Betrieb am 27. April wieder aufgenommen haben, auch am Feiertag aktiv sein können. Dies, um die Verluste aufgrund des Lockdowns etwas auszugleichen.
Wie der Stimme Gehör verschaffen?
«Es stellt sich die Frage, wie man in der gegenwärtigen Situation Widerstand leisten kann. Es gibt Einschränkungen, die wir akzeptieren, aber wenn wir unsere Stimme nicht erheben, wäre das schlimm. Wir müssen den Kopf hoch und die Augen offen halten», sagt Campanello.
Das Problem betrifft nicht nur den 1. Mai und die Gewerkschaften. Viele soziale Bewegungen sind derzeit nicht in der Lage, ihre Anhängerinnen und Anhänger physisch zu mobilisieren und so ihre Forderungen auf die Strasse zu bringen.
Vor etwa zehn Tagen wurde ein Autocorso, der in Zürich organisiert worden war, um Solidarität mit den Flüchtlingen in Griechenland zu bekunden, von der Stadtpolizei aufgelöst. Am 24. April legten Aktivistinnen und Aktivisten ebenfalls in Zürich Hunderte von Schuhen auf einen Platz. Dies als Symbol für die aktuell nicht mehr möglichen, weltweiten Freitagsproteste von «Fridays For Future».
Activists placed rows of boots and shoes in a Zurich square to take the place of protesters who normally come out in person on Fridays to demand action on #climatechangeExterner Link l #FridaysForFutureExterner Link #ClimateStrikeOnLineExterner Link #COVID19Externer Link https://t.co/RuqcwWWYS7Externer Link
— Thomson Reuters Foundation News (@TRF_Stories) April 24, 2020Externer Link
Auch ein ProtestmarschExterner Link gegen die Pestizidhersteller Bayer und Syngenta fand am nächsten Tag nur virtuell statt.
Nicht einmal der grosse Klimastreik, der für den 15. Mai in der Schweiz geplant ist, wird die Rekorde vom vergangenen September wiederholen können, als Zehntausende von Menschen auf den Strassen und Plätzen von Bern demonstrierten, um eine schärfere Klimapolitik zu fordern. Die VeranstaltungExterner Link findet nun online statt.
Die Fähigkeit zur Innovation
Doch wie gross kann die Wirkung einer politischen Handlung sein, die auf die virtuelle Welt und die eigenen vier Wände beschränkt bleibt? Kann sie die gleiche Wirkung hervorrufen wie eine grosse Strassendemonstration?
«Die Klimabewegung lernte bereits 2015 in Paris, Wege zu finden, sich trotz der Einschränkungen des Ausnahmezustands [der in Frankreich nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 ausgerufen wurde, Anm. d. Red.] auszudrücken», sagt Payal Parekh. Der in Bern lebende Aktivist hat Erfahrung in der globalen Koordination von Kampagnen.
«Soziale Netzwerke bieten wirksame Werkzeuge zum Handeln. Denken Sie nur an die Kampagne gegen klimaschädliche Investitionen der Grossbank Credit Suisse, an der Roger Federer beteiligt war.»
Es gebe aber Grenzen, sagt Parekh. Digitale Werkzeuge würden besonders bei spezifischen Themen gut funktionieren. Strassendemonstrationen hingegen würden eine breitere Mobilisierung zu allgemeineren Themen ermöglichen. Sie erlaubten, neue Kontakte zu knüpfen, Menschen ausserhalb der Aktivistenkreise einzubeziehen und zu zeigen, wie viele mobilisiert werden könnten. Und nicht zuletzt lieferten sie den Medien plakative Bilder.
«Die grossen Demonstrationen sind zweifellos wichtig für die Identitätsbildung einer Bewegung», sagt Marco Giugni, Politologe an der Universität Genf und Wissenschaftler für soziale Bewegungen. «Und für den Erfolg der Forderungen sind die Sichtbarkeit und die Fähigkeit zur Störung entscheidend. Das ist, was Wissenschaftler mit dem englischen Begriff ‹disruption› beschreiben, ein grundlegender Mechanismus zur Erlangung von Konzessionen.»
All diese Ziele sind online natürlich schwieriger zu erreichen. Andererseits, sagt Giugni, seien digitale Tools für die Koordination von Bewegungen und deren Manifestationen inzwischen grundlegend geworden. «Und vielleicht kann die gegenwärtige Situation einen Anstoss geben für eine Erneuerung des kollektiven Handelns. Auch die Fähigkeit zur taktischen Innovation spielt eine primäre Rolle für den Erfolg sozialer Bewegungen.»
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«Wir müssen die Schweiz vor dem sozialen ‹Meltdown› bewahren»
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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