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«Es gehört zu den Aufgaben von Schriftstellern und Schriftstellerinnen, den Staat zu beobachten»

Porträt des von Matt
Peter von Matt hat Friedrich Dürrenmatt persönlich gekannt und mehrfach über ihn publiziert. Daniel Winkler / 13 Photo

Friedrich Dürrenmatt war einer der scharfsinnigsten Kritiker von Gesellschaft und Politik seiner Zeit. Aber warum und wie sollen wir seine Werke heute noch lesen? Und wer erfüllt dessen Rolle in der heutigen Zeit? Ein Interview mit dem Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Peter von Matt anlässlich von Dürrenmatts 100. Geburtstag.

swissinfo.ch: Wie relevant ist Dürrenmatts Gesellschaftskritik heute noch? In Bezug auf die internationalen Krisen und im Fall der Schweiz? 

Peter von Matt: Dürrenmatt war ein scharfer Beobachter der gesellschaftlichen und sozialen Prozesse. Er formte aus seinen Beobachtungen gerne drastisch zugespitzte Erzählungen. Diese muss man als Leser wieder in Beziehung setzen zum konkreten politischen Geschehen im eigenen Land oder in der Welt. Dann entdeckt man, wo Dürrenmatts Kritik an der Politik der Schweiz oder anderer Länder einsetzt und wo er schwere Fehler der Regierungen diagnostiziert. Als Erzähler kann er uns diese Vorgänge handfester schildern als durch rein politische Diagnosen. 

Inwiefern hat Dürrenmatt mit der Kurzgeschichte «Die Virus-Pandemie» die Corona-Krise vorweggenommen?

Dürrenmatt hat in seinem Leben seit der Kindheit verschiedene Pandemien erlebt und beobachtet, von der Kinderlähmung, gegen die es in seiner eigenen Kindheit noch kein Mittel gab, bis zu andern, oft tödlichen Krankheiten. Er war selber von gefährlichen Leiden betroffen. Das machte ihn aufmerksam auf viele medizinische Prozesse. Er lebte schon früh in der Nähe des Todes. Die gegenwärtige Virus-Pandemie hat er nicht vorweggenommen, wohl aber kannte er die unvorsichtigen und oft gefährlichen Heilverfahren, zu denen die Menschen bei plötzlichen ansteckenden Krankheiten greifen. Seine Kurzgeschichte ist unter anderem eine witzige Analyse des falschen Verhaltens bei plötzlichen Krankheitswellen.

Wie würde Dürrenmatt unsere Zeit kommentieren? 

Er würde die unberechenbaren kollektiven Reaktionen der Menschen beobachten. Ihre Gleichgültigkeit, die plötzlich in Panik kippt, aber auch ihre Neigung, die eigene Angst durch Beschuldigungen anderer Menschen und vor allem der Regierungen loszuwerden. Wer über die Fehler anderer schimpfen kann, fühlt sich dabei besser, auch wenn er sich durch die Weigerung, offizielle Anordnungen zu befolgen, vielleicht schwer schadet. Die Lust, sofort Schuldige zu suchen und zu finden, wäre ein fruchtbares Thema für jeden Schriftsteller und jede Schriftstellerin.  

Ist Dürrenmatt in seiner Kritik nicht nur über die Grenzen der Schweiz, sondern auch über seine Zeit hinausgegangen? 

Dürrenmatt hatte eine wilde, unberechenbare Phantasie. Er dachte leidenschaftlich an kommende Zeiten und Zustände, aber ebenso scharfsinnig an weitabliegende Vergangenheiten und wie es die Menschen damals getrieben haben. Mit seiner Vorstellungskraft konnte er die Daseinserfahrungen im alten Griechenland, aber auch in der Zivilisation 500 Jahre nach uns so packend schildern, als wäre er gerade jetzt dort dabei. Man kann das in seinem späten Text «Die Virus-Pandemie» miterleben. Wir wissen, dass er hier seiner Phantasie freien Lauf lässt, und sind doch dabei wie Zeitgenossen. Ich habe ihn einmal sagen hören: «Es gibt nichts Neues in der Welt; es ist alles uralt.» Ich fand das eine ziemlich verrückte Behauptung, habe aber später erkannt, wie viel an diesem Satz wahr ist.  

Fehlt uns in der heutigen Zeit ein Kritiker wie Dürrenmatt? 

Wenn ein solcher Mensch stirbt, ist es immer ein schwerer Verlust. Aber ich nehme dabei auch seine Behauptung, die ich eben zitiert habe, ernst: Wenn alles uralt ist, ist auch das Heutige vom Gewicht des ganz Alten. Dann muss auch heute wieder irgendwo ein kleiner Junge herumrennen, in dem bereits die schöpferische Phantasie jenes Mannes brennt, der einst die Komödie «Der Besuch der alten Dame» und die unheimliche Geschichte «Die Panne» geschrieben hat.  

Schriftsteller wie Dürrenmatt bleiben aber auch deshalb weiterhin wichtig, weil sie vor den terroristischen Möglichkeiten, die in jedem Staat stecken, warnen. Der Staat hat eine gewaltige Macht über seine Bürger, und diese Macht muss überwacht werden. Es gehört zu den Aufgaben von Schriftstellern und Künstlern, den Staat zu beobachten und ihn so zu zeigen, dass die Leute aufmerksam werden auf das, was hier geschieht. 

Kann das heute noch ein Autor leisten? 

Es leben weiterhin bedeutende Köpfe unter uns. Da gibt es zum Beispiel Lukas Bärfuss. Er ist ein scharfer und aggressiver Denker, auch in politischer Hinsicht. Er macht sich damit bei vielen Lesern und Leserinnen unbeliebt. Das weiss er, aber es kümmert ihn nicht. Gewiss ziehen manche Leute die Dichter vor, die nur lustig und kurzweilig sind. Aber es braucht Autorinnen und Autoren, die anklagen, wo etwas nicht stimmt, deutlich und unerschrocken. Ich denke dabei auch an Ruth Schweikert oder Sibylle Berg.    

Wie sehen Sie die Rolle der Medien und der Intellektuellen generell? 

«Die Medien» und «die Intellektuellen» sind keine einheitliche Sache, sondern eine ganze bunte Welt. Wer sie ernsthaft studiert, entdeckt ihre Vielfalt. Ich brauche nicht alles und alle davon, aber einige brauche ich immer, und wenn ein Teil mir auf die Nerven geht, kann genau dieser Teil für andere Menschen wieder von grossem Nutzen sein. Oft lernt man ja gerade von den Dingen, die einen ärgern, besonders viel. Und so lange man noch etwas lernt, bleibt man lebendig.   

Peter von Matt, geb. 1937, war Professor für Deutsche Literatur an der Universität Zürich. Er hat Friedrich Dürrenmatt persönlich gekannt und mehrfach über ihn publiziert. Zu seinen zahlreichen Werken gehören die Bücher «Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist» und «Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz». 

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