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Abtreibungen sind in der Schweiz noch immer ein Stigma

Frau hält ein Schild für legale Abtreibungen
Im Juni 2022 demonstrierten Menschen in mehreren Schweizer Städten, darunter St. Gallen, Luzern und Genf (Foto), um ihrer Empörung über die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, das Recht auf Abtreibung zu widerrufen, Ausdruck zu verleihen. Keystone / Magali Girardin

Frauen, die in der Schweiz ihre Schwangerschaft abbrechen wollen, sind mit Hürden konfrontiert. Fachleute für sexuelle Gesundheit sprechen sich ebenso wie die WHO für eine Änderung der Gesetze aus.

Wie in vielen anderen Staaten ist auch in der Schweiz die Debatte um Abtreibung wieder aufgeflammt, nachdem der Oberste Gerichtshof der USA im vergangenen Jahr das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch aufgehoben hatte.

In Frankreich führt das Parlament derzeit heftige Diskussionen über die Aufnahme eines solchen Rechts in die Verfassung. In Italien wird die Partei der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von ihren Gegner:innen beschuldigt, den Zugang zum freiwilligen Schwangerschaftsabbruch auf subtile Weise zu beschneiden.

In der Schweiz ist das Recht auf Abtreibung nach wie vor im Strafgesetzbuch geregelt. Im Jahr 2002 wurde die sogenannte Fristenregelung eingeführt: Ein Schwangerschaftsabbruch ist in den ersten 12 Wochen straffrei, «wenn die Frau schriftlich darum ersucht und geltend macht, dass sie sich in einer Notlage befindet». Nach Ablauf dieser Frist muss die Ärztin oder der Arzt «eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit der schwangeren Frau» nachweisen.

Dies entspricht jedoch nicht den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die im letzten Jahr aktualisiert wurden. Diese empfehlen unter anderem die vollständige Entkriminalisierung der Abtreibung. Das heisst ihre Streichung aus allen Strafrechtsvorschriften. Die WHO rät ausserdem, die Beschränkungen hinsichtlich des Zeitpunkts der Schwangerschaft, zu dem eine Abtreibung vorgenommen werden kann, aufzuheben.

32 Länder in Europa haben sich bereits dafür entschieden, den Schwangerschaftsabbruch in einem eigenen Gesetz ausserhalb des Strafrechts zu regeln. Hervorzuheben ist die Umsetzung von Frankreich, Belgien und Grossbritannien.

>> Wie diese Karte zeigt, ist der Zugang zu Abtreibungen in 20 Ländern komplett verboten und in vielen weiteren nur sehr restriktiv zulässig:

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Intensive Debatten

Die Empfehlungen der WHO haben in der Schweiz bislang keine politische Mehrheit gefunden. Im März dieses Jahres begrub das Parlament eine Initiative der Grünen-Nationalrätin Léonore Porchet, die darauf abzielte, Abtreibung aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.

Die rechte Mehrheit war der Ansicht, dass sich die seit über 20 Jahren geltende Fristenregelung bewährt habe. «Die Vorstellung, dass man Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, von Schuldgefühlen befreit, indem man die entsprechenden Vorschriften aus dem Strafgesetzbuch herausnimmt und sie in einem anderen Gesetzbuch unterbringt, ist ziemlich absurd», sagte der SVP-Nationalrat Yves Nidegger in der Debatte.

Nicht nur die Befürworter:innen von mehr Entscheidungsfreiheit, sondern auch die Abtreibungsgegner:innen konnten ihre Ideen bislang nicht durchsetzen. Wie überall in Europa sind auch in der Schweiz die Pro-Life-Bewegungen gewachsen. Seit etwa einem Jahrzehnt wetteifern sie darum, das Recht auf Abtreibung einzuschränken. Trotz ihres Aktivismus bleiben sie jedoch in der Minderheit und haben noch nie eine Volksabstimmung gewonnen.

Vor kurzem erlitten sie eine weitere Niederlage: Zwei Abgeordnete der SVP hatten zwei Volksinitiativen zur Einschränkung des Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen lanciert, die von Anti-Abtreibungsorganisationen ausgearbeitet worden waren. Beide Initiativen verfehlten jedoch die für eine Volksabstimmung nötigen 100’000 Unterschriften.

>> Unsere Recherche über die Pro-Life-Bewegung in der Schweiz:

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Pro-Life-Bewegung ist auch in der Schweiz erstarkt und versucht Abtreibungsrechte einzuschränken – nach dem Vorbild der USA.

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Die Situation neu beurteilen

Trotz dieser politischen Blockade hat der Bundesrat kürzlich die Tür für eine Neubewertung des Gesetzes geöffnet, indem er sich Ende August für ein Postulat in diesem Sinne aussprach.

Vier Parlamentarier:innen, Susanne Vincenz-Stauffacher von der FDP, die Sozialdemokratin Min Li Marti, die Grüne Léonore Porchet und die Grünliberale Melanie Mettler hatten im Parlament Vorstösse eingereicht, die die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs evaluieren, die bestehenden Hindernisse zu identifizieren und Massnahmen zu deren Bewältigung vorschlagen wollen.

«Die Meinungen, die wir hören, zeigen, dass Frauen, die in der Schweiz einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollen, noch immer zahlreiche Hindernisse überwinden müssen», erklärt Léonore Porchet.

Die PostulateExterner Link fanden Zuspruch von allen Parteien ausser der SVP und haben gute Chancen, demnächst vom Parlament angenommen zu werden.

Die Verteidiger:innen des jetzigen Systems sehen den Vorstoss kritisch. Nationalrat Benjamin Roduit, der die Initiativen aus dem Umfeld der Abtreibungsgegner:innen als einer von Wenigen in der Mitte-Partei unterstützt hat, sieht keinen Grund, das Dossier neu aufzurollen.

«Diese Frage hat weder in der Bevölkerung noch bei den Politiker:innen Priorität», findet er. Seiner Meinung nach sind die Forderungen für eine vollständige Entkriminalisierung von Abtreibungen extremistisch. «Wenn man sich an das Gesetz hält, sollte es keine Hindernisse für Frauen geben, die abtreiben wollen», sagt er. «Der Prozess ist dazu da, es sich zweimal zu überlegen.»

«Ich war schockiert»

Die Realität von Frauen, die abgetrieben haben, sieht jedoch anders aus. «Bei einem Gespräch über Verhütung stellte ich fest, dass meine Gynäkologin Abtreibungen ablehnte», erzählt Marine Ehemann.

Die 32-jährige Lausannerin beschloss daraufhin, die Ärztin zu wechseln, obwohl sie gehofft hatte, nie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen zu müssen. «Ich war schockiert, als ich von der Haltung meiner Ärztin erfuhr, deren Patientin ich seit vielen Jahren war. Die Weigerung, diesen Eingriff vorzunehmen, sollte deutlich gemacht werden», meint die Doktorandin der Politikwissenschaften.

Marine Ehemann blickt in die Kamera
Vor zwei Jahren nahm Marine Ehemann einen Schwangerschaftsabbruch vor. SWI swissinfo.ch hat sie von den dabei gemachten Erfahrungen erzählt. swissinfo.ch

Einige Zeit später wurde sie schwanger. «Obwohl ich in einer festen Beziehung war und einen stabilen Job hatte, war es für mich einfach nicht der richtige Zeitpunkt für ein Kind. Es gab wichtige Dinge zu erledigen, darunter meine Doktorarbeit», sagt die Politikwissenschaftlerin.

Nach intensiven, schwierigen Überlegungen traf sie die Entscheidung, die Schwangerschaft abzubrechen. Sie musste jedoch zwei Wochen warten, weil es zu früh war, um ihre Schwangerschaft durch einen Ultraschall zu bestätigen. «Das Warten war qualvoll, besonders weil sich die körperlichen Symptome zeigten», berichtet sie.

Ehemann war von ihrer Entscheidung überzeugt, musste diese aber immer wieder hinterfragen und bestätigen. «Der Prozess führt dazu, dass man an sich selbst zweifelt. Es erfordert eine immense innere Stärke», sagt sie.

Lange Wartezeiten

Die Geschichte von Marine Ehemann ist kein Einzelfall. Fachleute für sexuelle Gesundheit berichten über viele ähnliche Beispiele. «Selbst wenn eine Frau davon überzeugt ist, dass sie ihre Schwangerschaft abbrechen will, ist es nicht unüblich, dass sie einen weiteren Termin vereinbaren muss, bevor der Arzt ihr die erste Abtreibungspille aushändigt. Das kommt einer Bedenkzeit gleich», berichtet eine Beraterin für sexuelle Gesundheit, die anonym bleiben möchte.

Barbara Berger, Direktorin von Sexuelle Gesundheit Schweiz, bestätigt dies und weist auch darauf hin, dass eine Reihe von Gynäkolog:innen, die in der Schweiz praktizieren, sich aus religiösen oder ethischen Gründen weigern würden, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen.

In Italien gibt es zahlreiche Verweigerer:innen aus Gewissensgründen: 64,6% der Gynäkolog:innen dort lehnen Abtreibungen ab, wie die Daten des Gesundheitsministeriums Externer Linkaus dem Jahr 2020 zeigen.

In der Schweiz gibt es keine Zahlen. «Die öffentlichen Krankenhäuser sind verpflichtet, diese Leistung anzubieten. Wenn ein:e Angestellte:r sich weigert, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, muss es jemand anderes tun. Dies kann allerdings zu Wartezeiten führen», erklärt Berger. Privatkliniken und -praxen hingegen können frei entscheiden, ob sie eine Abtreibung durchführen oder nicht.

Abtreibungsgegner:innen protestieren (linke seite).
Die Anti-Abtreibungs-Bewegung auf der einen und diejenigen, die sich für eine liberalere Gesetzgebung einsetzen, auf der anderen Seite: Szenen einer Gegendemonstration zu einer Pro-Life-Versammlung in Zürich 2021. Keystone / Ennio Leanza

Von der Entkriminalisierung zur Entstigmatisierung?

Barbara Berger ist davon überzeugt, dass die Verankerung im Strafgesetzbuch die Ursache für die anhaltende Stigmatisierung ist. «Ein solches System übt grossen Druck auf das Gesundheitspersonal aus, das sicherstellen will, dass die Frau die richtige Entscheidung trifft. Das lädt zu moralisierenden Kommentaren ein», sagt sie.

Sie kritisiert auch, dass Frauen für einen legalen Schwangerschaftsabbruch erklären müssen, dass sie in einer Notlage befinden.

Für Sexuelle Gesundheit Schweiz liegt die Lösung auf der Hand: Abtreibungen sollte nicht mehr durch das Strafgesetzbuch geregelt werden, sondern wie in Frankreich durch ein Gesetz zur öffentlichen Gesundheit.

Berger ist der Meinung, dass nur so Selbstbestimmung und Gesundheit der Patientin im Mittelpunkt stehen. «Sobald eine Frau ihre Entscheidung getroffen hat, muss die Abtreibung ohne Verzögerung und ohne Hindernisse durchgeführt werden können», sagt sie.

Tiefe Abtreibungsrate

Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) gehört die Abtreibungsrate in der Schweiz mit rund 6 pro 1000 Frauen zu den niedrigsten der Welt. Modellrechnungen der WHO und des Guttmacher-Instituts, eines US-Forschungszentrums, zeigen, dass die Schweiz neben Singapur zu den Ländern gehört, in denen Abtreibungen am seltensten sind.

Diese tiefen Werte sind dem «ausgezeichneten System der Sexualerziehung» in den Schulen zu verdanken, sowie dem «sehr guten Netz von Familienplanungszentren» unter Schirmherrschaft der Organisation Sexuelle Gesundheit Schweiz steht, sagte Clémentine Rossier, Professorin am Institut für globale Gesundheit der Universität Genf, in einem früheren Artikel von SWI swissinfo.ch.


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Editiert von Virginie Mangin und Samuel Jaberg. Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer.

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