Adolf Ogi: Olympia braucht eine neue Formel
Adolf Ogi, ehemaliger Bundesrat und UNO-Botschafter für Sport, hat die Olympischen Spiele in Vancouver miterlebt und sich über die Schweizer Siege gefreut. Was die Sicherheit für die Athleten betreffe, müsse das IOC bei gewissen Disziplinen aber über die Bücher gehen.
swissinfo.ch: Die Olympischen Winterspiele 2010 sind Geschichte. Sie haben in Whistler hautnah mitgefiebert.
Adolf Ogi: Ich habe mit Begeisterung auf diese Spiele gewartet, habe mit Begeisterung und Freude den ersten Teil der Spiele mitverfolgt.
Und ich habe mit Begeisterung die wunderschönen, erfreulichen Resultate, insbesondere am Anfang von Simon Ammann, Dario Cologna und Didier Défago miterlebt – und mich ausserordentlich gefreut.
swissinfo.ch: Die goldenen Tage von Sapporo, die Sie als damaliger Assistent des Skiverbands wesentlich mitgeprägt hatten, sind von Vancouver medaillenmässig überholt worden.
A.O.: Das ist richtig, aber in Sapporo hatten wir natürlich viel weniger Disziplinen. Heute hat es fast 50 Prozent mehr Disziplinen wie Skicross, Snowboard, Skiakrobatik, drei Disziplinen in der nordischen Kombination und die Sprint-Disziplinen im Langlauf. Deshalb ist es nicht vergleichbar.
Aber freuen wir uns doch über die Leistungen, auch in den so genannt jungen Disziplinen, die jetzt von Schweizern in Vancouver erbracht wurden.
swissinfo.ch: Können die Schweizer Erfolge dem gegenwärtig arg gebeutelten Land neue Impulse geben?
A.O.: Neue Impulse ist zu viel gesagt. Wir müssen auch feststellen, dass die Sportarten an den Winterspielen nicht so genannte Weltsportarten sind, auch Skirennen nicht, die in vielleicht acht bis zehn Nationen betrieben werden, also nicht vergleichbar mit Tennis. Das ist eine Weltsportart.
Und deshalb muss man sagen: Es kann uns vielleicht Aufmerksamkeit bringen, Goodwill in dem Teil der Welt, der dem Wintersport zugeneigt ist.
swissinfo.ch: Nun heisst es allenthalben, der Sportgedanke sei an diesen Olympischen Spielen über die Grenzen hinaus strapaziert worden. Stichworte: die zu schnelle Bobbahn mit einem Todesfall und Verletzten, viele Stürze in der Damen-Abfahrt, der Eisläufer Stéphane Lambiel, der sich fitspritzen musste. Stellt sich der Sportgedanke selber so nicht in Frage?
A.O.: Nehmen wir vielleicht einen Punkt nach dem andern. Zuerst der Tod: Das ist eine Fatalität, das ist nicht zu begreifen und hat einen schweren Schatten auf den Start der Spiele geworfen.
Das Zweite, die Abfahrt, vor allem die Speed-Disziplinen der Damen. Es ist eine Tatsache, die Abfahrten waren zu anspruchsvoll bei diesen Bedingungen, die in Whistler herrschten. Und man hat ja festgestellt, mit einigen Ausnahmen, dass die Damen in den Speed-Disziplinen defensiv gefahren sind.
Und das Dritte: Wir sind enttäuscht, dass Lambiel die Medaille nicht gemacht hat, er hat auf diese gehofft. Dass er gespritzt werden musste, hat er entschieden. Als er sein Comeback ankündigte, wusste er, dass er gesundheitlich nicht ganz auf dem Damm ist. Das ist zu kritisieren, aber das muss jeder Athlet selber wissen.
swissinfo.ch: Aber die Bobbahn zum Beispiel, das war doch eine Überforderung für die Sportler? Es gab noch nie so viele Stürze auf einer Bahn.
A.O.: Richtig. Das hat mich auch beschäftigt. Das ist auch nicht gut. Und aus Schweizer Sicht: dass Weltmeister oder Bobfahrer, die schon Weltcup-Rennen gewonnen haben, nicht an den Start gehen können, weil sie gestürzt sind, das hat mich auch beschäftigt. Und das wirft leider einen gewissen Schatten auf die Spiele in Vancouver.
swissinfo.ch: Was heisst das für zukünftige Spiele?
A.O.: Da müssen das IOC und die Fachverbände sicher über die Bücher. Wir haben ja gesehen, wie viele Leute beispielsweise beim Riesenslalom der Herren gestartet sind. Von diesen 100 fahren zwar rund 30 Weltcup-Rennen. Aber die grosse Mehrzahl ist sich nicht gewohnt, einen solchen Schwierigkeitsgrad zu fahren.
Und deshalb müssen sich das IOC und die Fachverbände überlegen, ob das so weitergehen kann. Man kann die Anforderungen an Olympischen Spielen nicht nur auf die Spitze auslegen.
Bei Weltmeisterschaften muss das so sein. Bei Olympischen Spielen müsste man sich eine neue Formel überlegen für diejenigen, die teilnehmen wollen, nach dem Motto von Pierre de Coubertin, «teilnehmen ist wichtiger als siegen».
Aber man muss für die dann auch das Nötige vorkehren, damit Unfälle verhindert werden können. Unvorstellbar, die Abfahrt der Herren beispielsweise für 100 Fahrer freigeben zu wollen. Das würde nicht gut herauskommen.
swissinfo.ch: Sie sind in der ganzen Welt als Botschafter des Sports bekannt, haben Sport als friedliches Miteinander propagiert. Steht der Gedanke des Wettkampfsports dieser Idee nicht konträr gegenüber?
A.O.: Das würde ich nicht sagen. Für mich bei der UNO war Sport natürlich Spiel, Spass, Freude, Bewegung, Erziehung, Mut, Integration, Solidarität, um nicht noch weiter zu gehen. Das heisst nicht, Medaillen gewinnen.
Und ich habe diese Augen gesehen, der Kinder und Flüchtlinge in Afrika, die dank dem Sport aus einer traumatisierten Welt herausgenommen werden können. Das kann nur der Sport erreichen. Auch die Kultur schafft das nicht.
Der Sport ist auch ein unglaublicher Türöffner. Es muss nur noch etwas besser verstanden werden von Regierungen und Politikern. Sie sollten Sport als beispielhafte Schule für die Vorbereitung auf das Leben betrachten, weil jedes Kind zwischen 5 und 15 die Möglichkeit erhalten sollte, Fehler zu machen, ohne Konsequenzen für das berufliche Leben.
Ich kann erfahren, wie mein Charakter, mein Temperament in der Niederlage oder im Erfolg reagiert. Das kann man nur im Sport.
Christian Raaflaub, swissinfo.ch
6 Goldmedaillen
– Ski Alpin, Abfahrt: Didier Défago
– Ski Alpin, Riesenslalom: Carlo Janka
– Ski Nordisch, kleine Schanze: Simon Ammann
– Ski Nordisch, grosse Schanze: Simon Ammann
– Ski Nordisch, Langlauf 15km: Dario Cologna
– Ski Freestile, Ski-Cross: Michael Schmid
3 Bronzemedaillen
– Ski Alpin, Kombination: Silvan Zurbriggen
– Snowboard, Cross: Olivia Nobs
– Curling Männer: Simon Strübin, Markus Eggler, Ralph Stöckli und Jan Hauser.
1942 in Kandersteg, Kanton Bern geboren.
«Ogis Leute siegen heute»: 1972 war er an den Olympischen Spielen als Assistent des Schweizer Skiverbands massgeblich am Erfolg der Schweizer Athleten beteiligt.
1979 wurde Ogi als Vertreter der Schweizerischen Volkspartei (SVP) in den Nationalrat gewählt, 1984 wurde er Parteipräsident.
Am 9. Dezember 1987 wurde er zum Bundesrat gewählt, wo er zuerst Verkehrs-, später Armee- und Sportminister war sowie Bundespräsident in den Jahren 1993 und 2000.
Ende 2000 trat er von seinem Amt zurück und übernahm bei der UNO das Mandat als «Sonderberater für Sport im Dienste von Entwicklung und Frieden», das er 2007 abgab.
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