«Adoption nur als letzte Alternative»
Beim Erdbeben in Haiti sind zahlreiche Kinder zu Waisen geworden. Das Thema Adoption ist wieder aktuell. Marlène Hofstetter, Leiterin des Adoptionsdienstes des Kinderhilfswerks Terre des hommes, äussert sich über die Problematik internationaler Adoptionen.
swissinfo: Werden nach dem verheerenden Erdbeben die Adoptionen von Kindern aus Haiti boomen?
Marlène Hofstetter: Die Anfragen sind da von Leuten, die sich erkundigen, wie man ein Kind aus Haiti adoptieren kann.
In anderen Ländern, wo schon viele Adoptionen aus Haiti gemacht wurden, ist die Anfrage gross.
swissinfo: Ist es nach der Katastrophe nicht positiv für haitianische Waisen oder Halbweisen, wenn sie weg von Armut, Obdachlosigkeit und Gewalt zu einer Schweizer Familie gehen können?
M.H.: Zuerst müsste man abklären, ob es wirklich Waisen sind, ob nicht noch Familie vorhanden ist, Onkel, Tante oder erweiterte Familienmitglieder, die sich um das Kind kümmern können.
Man muss auch schauen, in welchem Zustand die Kinder sind, ob sie traumatisiert sind, da ist es nicht unbedingt angebracht, dass man die Kinder sofort aus dem Land schleust und in eine neue Familie platziert.
swissinfo: Eine niederländische Organisation zur Vermittlung von Waisenkindern hat am Donnerstag 109 Kinder aus Haiti ausgeflogen, die ein neues Leben und neue Familien in den Niederlanden gefunden haben.
M.H.: Ich finde es verwerflich, wenn man Flugzeuge voller Kinder aus Haiti ausführt. So viel ich gehört habe, sind bei weitem nicht alle dieser Kinder von einem Adoptionsverfahren betroffen, sondern nur 55.
Die anderen Kinder wurden zum Teil noch gar keinen Adoptivfamilien vorgeschlagen.
swissinfo: Belgien will die Adoption von haitianischen Kindern durch belgische Familien, die bereits vor dem Beben ein entsprechendes Prozedere initiiert haben, erleichtern. Auch die Schweiz ist bereit, Adoptionsprozesse, die bereits in Gang sind, zu beschleunigen. Ein richtiger Schritt?
M.H.: Es kommt immer darauf an, was man unter Beschleunigung versteht. Auf jeden Fall muss die Situation von jedem einzelnen Kind unter die Lupe genommen werden – jetzt nochmals nach dem Erdbeben.
Es muss auch mit den haitianischen Behörden zusammengearbeitet werden. Es kann nicht angehen, wie das eben jetzt die Holländer gemacht haben, dass die Kinder das Land einfach so verlassen.
Die Behörden müssen für jede Adoption ihre Zustimmung geben, damit das Kind wirklich auch die notwendigen Papiere hat für seine Adoption.
swissinfo: In Frankreich hat Aussenminister Kouchner vor zu schnellen Adoptionen von haitianischen Kindern gewarnt, damit die französischen Behörden nicht «der Entführungen» beschuldigt werden könnten, auch unter einem «guten Vorwand».
M.H.: In Frankreich spricht man von über 1000 Kindern, für die ein Adoptionsverfahren in Gang ist. Da versteht man, dass da nicht so viele Kinder auf einmal Haiti verlassen können.
Die französischen Behörden sagen auch ganz klar, dass sie mit den haitianischen Behörden zusammenarbeiten wollen, so dass die Verfahren noch eine Weile dauern.
Der Druck der Adoptierenden in Frankreich auf die Regierung, dass die Kinder Haiti verlassen können, ist allerdings sehr gross. Zu Beginn sagte Frankreich, zum heutigen Zeitpunkt würden alle Adoptionen gestoppt. Jetzt hat man die Meinung ein bisschen geändert.
swissinfo: Haitianische Adoptivkinder sind in der Regel schwarzer Hautfarbe. Haben sie deswegen Probleme in der Schweiz?
M.H.: Das glaube ich nicht. Wie das dann ist, wenn die Kinder gross sind, ist ein anderes Kapitel. Es steht natürlich nicht auf der Stirne geschrieben, dass sie adoptiert wurden und Schweizer sind.
Natürlich müssen sie auch mit fremdenfeindlichen Bemerkungen rechnen. Das kommt aber grundsätzlich von der Andersartigkeit, dass kann auch einem Kind passieren, das aus Nepal, Indien oder Thailand kommt.
Das muss nicht unbedingt nur mit der Hautfarbe zu tun haben. Aber klar, jeder andersfarbige Mensch wird mit Rassismus konfrontiert, ob er adoptiert, ein Einwanderer oder ein Asylant ist.
swissinfo: Sollte man deshalb nicht davon absehen, Kinder anderer Hautfarbe oder Kinder aus anderen Kulturkreisen zu adoptieren?
M.H.: Adoption ist eine gute Lösung und sollte im Prinzip eingesetzt werden, um das Kind zu schützen, wenn es wirklich keine andere Lösung gibt in seinem Heimatland, wenn keine Alternative vorhanden ist, als in einem Heim aufzuwachsen. Dann ist internationale Adoption eine gute Lösung, aber nur als letzte Alternative.
Man muss auch das Alter des Kindes berücksichtigen, ob es stark traumatisiert ist, dann ist es auch nicht angebracht, das Kind aus dem Land zu holen und in unsere «geordnete» Schweiz zu bringen, wo niemand nachvollziehen kann, was das Kind in seinem Heimatland erlebt hat.
swissinfo: Sind die schweizerischen Anforderungen an künftige Adoptiveltern genügend?
M.H.: Nein. In vielen europäischen Ländern müssen die Eltern zuerst Vorbereitungskurse besuchen. Das dauert zum Teil mehrere Monate, wo ihnen genau erklärt wird, was ist eine Adoption, was kommt auf sie zu.
Das gibt es in der Schweiz nicht. Es gibt schon ein bisschen Vorbereitung, während den Abklärungen, die von den Kantonen gemacht werden. Die sind aber zum Teil sehr unterschiedlich. Vorbereitung wird hier nicht wirklich ausführlich betrieben.
swissinfo: Was passiert, wenn ein gross gewordenes Adoptivkind seine richtigen Eltern suchen will?
M.H.: Das gehört auch zu unserer Arbeit. Wir haben viele erwachsene Adoptierte, die zurückkommen, die vor 20, 30 Jahren adoptiert wurden und nun versuchen, etwas über ihre leibliche Familie auszumachen.
swissinfo: Sind Adoptivkinder in der Schweiz generell glücklich?
M.H.: Das kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Es kommt sehr stark darauf an, wie das Kind sein «Verlassenwordensein» in seine Lebensgeschichte integrieren kann.
Es gibt Adoptierte, die das gut können und damit fertig werden, aber auch solche, die das nie verarbeiten können, dass sie einmal verlassen wurden. Und dann wird es problematisch, auch wenn die Adoptivfamilie sich grosse Mühe gibt und das Kind gerne hat.
Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch
Eine Adoption antwortet auf das Bedürfnis eines Kindes nach einer Familie und auf das Verlangen eines Paares, Eltern zu werden.
Bei Terre des hommes (Tdh) ist die internationale Adoption eine Tradition, seit über 40 Jahren ist das Kinderhilfswerk in diesem Bereich tätig. Als akkreditierte Vermittlungsstelle garantiert Tdh, dass die Adoptionen legal und ethisch einwandfrei ablaufen. Oberstes Ziel ist es, das Interesse des Kindes zu wahren. Gleichzeitig setzt sich Tdh gegen missbräuchliche Adoptionspraktiken ein und bringt sein Fachwissen auf nationaler und internationaler Ebene ein.
Tdh macht eine Adoption von A-Z: Erste Informationen, Vorbereitungen mit den Adoptiveltern, welches Kind wird welchem Elternpaar vorgeschlagen, Zusammenstellung der Unterlagen für das Heimatland des Kindes, Beratung der Eltern vor der Reise und Betreuung der Eltern, wenn das Adoptivkind dann in der Schweiz ist.
Die Sozialarbeiterin Marlène Hofstetter (55) ist Leiterin des Adoptionsdienstes des Kinderhilfswerks Terre des hommes. Sie arbeitet dort seit 25 Jahren im Bereich Adoption.
Sie war schon viermal in Haiti, wovon zweimal mit einem Mandat des UNO-Kinderhilfswerks Unicef, für welches sie zuerst einen Bericht über Adoption in Haiti verfasste und später auch zur Ausarbeitung einer neuen Gesetzgebung mitwirkte.
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