«Die Taliban sind nicht einfach die Bösen»
Auch die Taliban hätten sich in 20 Jahren Krieg verändert, sagt die schweizerisch-afghanische Doppelbürgerin A.W. Der Diskurs im Westen sei voreingenommen.
A.W. wurde als Kind einer sozialistisch geprägten Familie in Afghanistan geboren. Als die Mudschaheddin 1992 die Macht übernahmen floh sie mit ihrem Vater, einem ehemaligen Diplomaten und prominenten afghanischen Politiker, mit ihren Brüdern und Schwestern in die Schweiz. Damals war sie noch ein Teenager.
Nach zehn Jahren in der Schweiz, von denen sie die meiste Zeit in Genf verbrachte, liess sie sich einbürgern und wurde Schweizerin.
A.W. ist als Beraterin für die Earth Focus Foundation tätig. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrungen in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, Menschen- und Geschlechterrechte und hat sowohl für zivile Organisationen als auch für staatliche Institutionen in der Schweiz und im Ausland gearbeitet. Sie hat einen Abschluss in internationalen Beziehungen der Genfer Schule für Diplomatie und internationale Beziehungen (GSD) und ein Postgraduierten-Diplom in Konflikt- und Entwicklungsmanagement der Open University in London.
Im Jahr 2013 hatte sie die Möglichkeit, als Mitarbeiterin einer Nichtregierungsorganisation, die sich auf die Emanzipation der Frauen spezialisiert hat, in ihr Heimatland zurückzukehren.
Nach einem Jahr vor Ort wechselte sie zur Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), dem für die internationale Zusammenarbeit der Schweiz zuständigen Ast des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
Sie arbeitete zwei Jahre lang für die Deza und dann ein Jahr lang für die kanadische Botschaft in Kabul, bevor sie 2017 familiäre Verpflichtungen zur Rückkehr in die Schweiz bewegten.
SWI swissinfo.ch: Wie war es in Kabul, als Sie vor ein paar Jahren noch dort lebten?
A.W.: Die Sicherheitslage war prekär, es gab ziemlich regelmässig Bombenanschläge, aber die Stadt war immer noch sicherer als der Rest des Landes, wo wirklich Krieg herrschte. Als ich 2013 in meine alte Heimat zurückkehrte, wusste ich, was mich erwarten würde.
Ich kannte die Situation vor Ort, da ich schon zwischen 2001 und 2013 viermal in Afghanistan gewesen war. Aus Sicherheitsgründen und auch wegen der politischen Vergangenheit meiner Familie, die man in Afghanistan kannte, bin ich nicht viel ausgegangen.
Wie verlief Ihre Integration in Afghanistan?
Es war als Doppelbürgerin nicht einfach, akzeptiert zu werden. Gleichzeitig konnte ich durch die Kenntnis beider Länder Brücken bauen, was sich als Vorteil erwies. Ausserdem gibt es nicht nur eine afghanische Mentalität, sondern viele.
Aus Sicherheitsgründen ist es daher wichtig, sich ständig an die Gegebenheiten vor Ort anzupassen. Dass ich eine Frau bin, machte die Sache nicht einfacher.
Die Frauen in Afghanistan haben während der amerikanischen Besatzung der letzten zwanzig Jahre Rechte erworben, die sie nun unter dem Taliban-Regime wieder zu verlieren drohen. Beunruhigt Sie das?
Ich denke, die Situation der Frauen ist untrennbar mit der Sicherheit und der Wirtschaft verbunden. Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit Geschlechterfragen zu befassen. Die Bevölkerung ist so arm, dass wir uns vorerst auf ihre Grundbedürfnisse wie Essen, Obdach und medizinische Versorgung konzentrieren müssen.
Afghanische Frauen sind stark. Das haben sie in all den Jahren des Leidens bewiesen. Sie werden weiter kämpfen und ihre Interessen verteidigen. Diejenigen, die in den Städten lebten, konnten von dem vom Westen eingeführten System profitieren und werden nicht mehr zurückwollen.
Die Stiftung Glückskette, die humanitäre Solidaritäts- und Sammelplattform der Schweiz, sammelt Spenden zur Linderung der Folgen der Afghanistan-Krise.
Spenden mit dem Vermerk «Afghanistan» können online auf www.glueckskette.chExterner Link oder per E-Banking auf die Konto-Nr. IBAN CH82 0900 0000 1001 5000 6 getätigt werden.
Die Glückskette ist die humanitäre Solidaritäts- und Sammelplattform der Schweiz und wird von der SRG SSR getragen, zu der auch swissinfo.ch gehört. Sie arbeitet zudem mit privaten Medien und Unternehmen zusammen.
Was ist mit dem Rest der Bevölkerung, die ebenfalls eine gewisse Form von wirtschaftlicher, politischer und bildungspolitischer Freiheit genossen hat?
Während der vier Jahre, die ich in Kabul verbrachte, hatte ich Kontakt zu allen Schichten der Gesellschaft. Und ich habe den Eindruck, dass die Mittelschicht am meisten von der relativen Sicherheit und den wirtschaftlichen Möglichkeiten profitiert hat, welche die internationale Gemeinschaft und Nichtregierungsorganisationen geschaffen haben.
Diese Menschen haben einige Rechte und Freiheiten sowie wirtschaftliche Vorteile erlangt. Die Armen, und damit die überwiegende Mehrheit der afghanischen Landbevölkerung, haben jedoch nicht davon profitiert. Im Gegenteil, sie sind noch tiefer in die Armut gesunken.
Das derzeitige, von der Hilfe abhängige Wirtschaftssystem steht kurz vor dem Zusammenbruch, da die internationalen Finanzinstitutionen ihre Mittel eingestellt haben, die US-Regierung die Reserven der afghanischen Regierung eingefroren hat.
Für mich zeigt das deutlich, dass eine künstlich geschaffene wirtschaftliche, politische und militärische Struktur, die sich nicht auf natürliche Weise durch die einheimische Bevölkerung entwickeln konnte, zum Scheitern verurteilt ist, sobald die ausländische Hilfe eingestellt wird.
Heute ist die Mittelschicht verständlicherweise um ihre politischen Rechte besorgt, aber sie ist eine Minderheit. Die überwältigende Mehrheit der afghanischen Männer und Frauen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion, will nur eines: Sicherheit und ein Ende des vierzigjährigen Konflikts!
Und was ist mit den Taliban?
In zwanzig Jahren hat sich die gesamte afghanische Bevölkerung verändert, und damit auch die Taliban. Sie werden nicht mehr so handeln können wie vor 2001, denn die Menschen, die die Freiheit kennen gelernt haben, werden Widerstand leisten.
Der Wandel muss vom afghanischen Volk selbst ausgehen. Der Aufbau einer Nation, die dem afghanischen Volk gehört und von Afghanen geführt wird, braucht Zeit. Das Land wird sicherlich eine turbulente Zeit durchmachen.
Ich denke, wir sollten der Geschichte ihren Lauf lassen. Eine Demokratie wird nicht an einem Tag geschaffen. In Afghanistan wurde der Lauf der Geschichte immer wieder durch aufeinanderfolgende Besetzungen unterbrochen. Und wir haben gesehen, dass sie nichts Positives gebracht haben.
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Glauben Sie, dass man den Taliban trauen kann, wenn sie sagen, dass sie die Freiheiten nicht einschränken und Menschen, die mit westlichen Streitkräften kollaboriert haben, nicht verfolgen werden?
Das ist im Moment schwer zu sagen. Man muss unterscheiden zwischen dem, was die Führer sagen, und dem, was vor Ort, auf dem Lande, geschieht. Die Taliban sind nicht wie eine Armee organisiert. Es handelt sich nicht um ein institutionalisiertes, strukturiertes System. Wir sollten also keine unmittelbare Übereinstimmung zwischen Ankündigungen und Fakten erwarten.
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Die Taliban brauchen jedoch die Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft, da das Land wirtschaftlich nicht unabhängig ist. Sie werden also einige Bedingungen erfüllen müssen.
Auch die Taliban sind durch den jahrelangen Krieg traumatisiert und müde. Als ich in Kabul war, wurde mir klar, wie wichtig es ist, ihre Sichtweise zu verstehen. Auf dem Land verteidigten die Kämpfer nur ihr Land gegen die Eindringlinge. Für sie ist es eine heilige Sache. Wir müssen ihre Version der Geschichte analysieren und kontextualisieren, um die Grundursache des Konflikts zu verstehen.
Ich verteidige sie nicht, ich sage nur, dass die Taliban nicht nur die Bösen sind, wir müssen hinter die Oberfläche blicken, anstatt die Kriegsparteien in gut und böse einzuteilen. Die Taliban sind nicht nur die Bösen, man muss über den Tellerrand schauen. Beide Seiten haben gute Gründe für ihre Anklagen.
Der Name der befragten Person wurde am 23. Januar 2024 auf ihren Wunsch hin anonymisiert.
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