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Wie die Schweiz darum kämpft, Renten für kommende Generationen zu sichern

Neuer Anlauf für ein höheres Rentenalter für Frauen

Pensionierte auf Wanderung
Die Schweizer Regierung möchte das Rentenalter für Frauen von 64 auf 65 erhöhen. © Keystone / Christian Beutler

Die Schweizer Regierung plant, das Rentenalter für Frauen um ein Jahr anzuheben, um es an das der Männer anzugleichen. Die meisten Industrieländer haben ähnliche Reformen beschlossen, aber das Thema ist politisch brisant.

Norwegens und Islands Neurentner sind die ältesten in den entwickelten Volkswirtschaften. In den beiden nordischen Ländern muss man bis zum 67. Lebensjahr arbeiten, um eine volle Rente zu erhalten. Ihre Gesetzgebung, die in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre eingeführt wurde, sieht kein unterschiedliches Rentenalter für Männer und Frauen vor.

Im Gegensatz zur Schweiz, wo Frauen mit 64 Jahren in den Ruhestand gehen können, Männer dagegen erst mit 65 Jahren. Die Schweizer Regierung will diesen Gender Gap schon lange beseitigen und das Referenzalter angleichen. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) befürwortetExterner Link dies.

Am Montag, 15. März, hat der Ständerat den Entwurf zur AHV-Reform in diesem Sinne verabschiedet. Die Notwendigkeit einer Reform war unbestritten, zu diskutieren gab es aber noch einiges.

Die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) ist die erste der «drei Säulen» des Schweizer Rentensystems. Dieses soll allen Rentnern, die in der Schweiz leben oder gearbeitet haben, einen minimalen Lebensstandard garantieren. Die im Umlageverfahren finanzierte Rechnung der AHV verschlechtert sich aber seit einigen Jahren. Ein Phänomen, das sich in den kommenden Jahren mit der Pensionierung der «Babyboomer» noch verschärfen dürfte. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) prognostiziert, dass die Schulden der AHV in zehn Jahren 23 Milliarden Franken übersteigen werden, wenn keine Massnahmen ergriffen werden.

Um hier Abhilfe zu schaffen, sieht das als «AHV 21» bekannte Reformprojekt vor allem eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen auf 65 Jahre vor, begleitet von einem Ausgleich. Mit dieser Massnahme hofft die Regierung, zwischen 2023 und 2031 insgesamt 10 Milliarden Franken einzusparen.

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Auf dem Weg zum Rentenalter 66

Das Renteneintrittsalter der Schweizerinnen liegt momentan leicht über dem OECD-DurchschnittExterner Link, der 2018 für Frauen bei 63,5 Jahren und für Männer bei knapp über 64 Jahren lag. (Das tatsächliche Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt muss nicht unbedingt dem entsprechen. In der Schweiz erfolgt es im Durchschnitt etwas später, mit 65 Jahren für Frauen und 66,5 Jahren für Männer).

In den letzten Jahren haben jedoch die Alterung der Bevölkerung und der Anstieg der Defizite die meisten Regierungen dazu veranlasst, eine Erhöhung des Renteneintrittsalters zu beschliessen, oft gegen starken Widerstand.

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Der finanzielle Druck war bei voll umlagefinanzierten Systemen, die den demografischen Veränderungen stärker ausgesetzt sind, früher und stärker zu spüren als bei einem gemischten System wie in der Schweiz – wo nur die erste Säule umlagefinanziert ist und die beiden anderen kapitalgedeckt sind.

3-Säulen-Model
swissinfo.ch

Je nach nationalen Besonderheiten sind die durchgeführten Reformen mehr oder weniger fortschrittlich und einschneidend. So weist die OECD beispielsweise darauf hin, dass das Renteneintrittsalter in Dänemark und den Niederlanden irgendwann für beide Geschlechter auf über 70 Jahre angehoben werden könnte. Das Durchschnittsalter werde in den Mitgliedsländern bis 2060 schrittweise auf 65,7 Jahre für Frauen und 66,1 Jahre für Männer ansteigen. Bei Annahme des Projekts «AHV 21» wird die Schweiz noch leicht unter diesem Niveau liegen.

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Altersunterschiede werden verschwinden

Der Trend deutet darauf hin, dass der Gender Gap in den meisten Ländern allmählich beseitigt wird. Heute ist das Rentenalter für Frauen in 19 OECD- und G20-Ländern niedriger.

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Nach derzeitigem Stand wird dies nur in fünf der insgesamt 30 OECD-Länder weiterhin der Fall sein, darunter in der Schweiz. In anderen Länder wie Argentinien, Russland, China und Brasilien bleibt eine Lücke von fünf Jahren, in Rumänien wird sie auf zwei Jahre reduziert.

Der liberale Think Tank Avenir Suisse hat zwei MethodenExterner Link identifiziert, wie Länder das Rentenalter anheben. Manche Regierungen beginnen mit der Harmonisierung des Rentenalters für Frauen an das der Männer – wie es die «AHV 21» vorsieht – und erweitern dann das Alter für die gesamte Bevölkerung. Diesen Weg haben Länder wie Australien, Österreich, Belgien und das Vereinigte Königreich gewählt.

Der zweite Ansatz besteht darin, von vornherein für beide Geschlechter das gleiche höhere Zielalter festzulegen; der Aufwand, dies zu erreichen, ist dann für Frauen grösser. In Italien zum Beispiel gingen Frauen mit 60 und Männer mit 65 in Rente, bevor beschlossen wurde, das Rentenalter im Jahr 2019 für alle auf 67 Jahre anzuheben. Längerfristig werden die Italiener mit 71 Jahren in Rente gehen.

Ein «patriarchalisches» System?

Laut Jérôme Cosandey, bei Avenir Suisse Leiter der Westschweiz und der sozialpolitischen Forschung, zeigt dieser internationale Vergleich nicht nur, dass das Schweizer Reformprojekt «nicht sehr ambitioniert» ist, sondern spricht auch für eine Harmonisierung des Rentenalters.

«Die vier anderen OECD-Länder, die dies noch nicht getan haben – Polen, Ungarn, Israel und die Türkei – sind nicht wirklich Modelle für die Gleichstellung der Geschlechter», sagte er gegenüber swissinfo.ch.

Die politische Debatte in der Schweiz kreist sich um die Frage, ob eine Reform, die nur die Hälfte der Bevölkerung betrifft, gerecht ist. Der Rentenexperte sagt, die Einführung eines differenzierten Rentenalters sei selbst das Ergebnis eines «sehr patriarchalischen» Systems.

Als die AHV 1948 eingeführt wurde, lag das Rentenalter für beide Geschlechter bei 65 Jahren. Erst bei den Revisionen 1957 und 1962 – also vor der Einführung des Frauenwahlrechts 1971 – beschlossen die Politiker, das Renteneintrittsalter für Frauen erst auf 63, dann auf 62 Jahre zu senken, sagt Cosandey.

Dafür gab es mehrere Gründe, aber «böse Zungen behaupten, dass die Männer, die in der Regel älter als ihre Frauen waren, im Ruhestand nicht allein sein wollten», sagt Cosandey. Er fügt hinzu, dass die damalige Argumentation des Bundesrates auf der Annahme basierte, dass «Frauen trotz ihrer höheren Lebenserwartung physiologisch benachteiligt» seien.

Erst bei der letzten AHV-Revision 1997 wurde beschlossen, das Rentenalter für Frauen in der Schweiz schrittweise von 62 auf 64 Jahre anzuheben, im Gegenzug zu Verbesserungen für sie, erklärt der Forscher.

Der Liberale sagt, er sei überrascht, dass die Gegner der Reform «versuchen, ein Relikt einer patriarchalischen Welt zu verteidigen, um den Status quo zu rechtfertigen».

Frauen bekommen bei der Pensionierung weniger

Die Ablehnung kommt vor allem aus feministischen Kreisen, Gewerkschaften und dem linken politischen Spektrum. Für die Sozialdemokratische Partei zum Beispiel erfolgt die Reform «auf dem Rücken der Frauen». Eine von den Gewerkschaften unterstützte und von mehr als 300’000 Menschen unterzeichnete Petition wurde am Montag bei der Bundeskanzlei in Bern eingereicht.

Petitionäre
Am 15. März wurde eine Petition gegen die Erhöhung des Rentenalters eingereicht – unterschrieben von 300’000 Menschen. Keystone / Peter Schneider

«Dieser Gesetzentwurf wird als ein Schritt in Richtung Gleichberechtigung präsentiert, aber Gleichberechtigung muss zuerst im Arbeitsleben erreicht werden. Davon sind wir noch weit entfernt», sagt Michela Bovolenta, Zentralsekretärin der Gewerkschaft des Service public (VPOD) und feministische Aktivistin, gegenüber swissinfo.ch. Für sie würde eine solche Massnahme im Gegenteil die Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern vertiefen.

Niedrigere Gehälter, mehr Teilzeitarbeit bei Frauen, fragmentiertere Karrierewege, die «gläserne Decke», die ungleiche Verteilung der häuslichen Aufgaben: «Das sind alles Ungleichheiten, die sich während des Arbeitslebens anhäufen und die immer noch vorhanden sind. Und sie führen dazu, dass die Renten für Frauen viel niedriger sind als für Männer», sagt Michela Bovolenta.

Dadurch werden die Möglichkeiten für Frauen eingeschränkt, in die betriebliche (2. Säule) und private (3. Säule) Altersvorsorge einzuzahlen. Tatsächlich sind Frauen unter den armen Alten inzwischen stark überrepräsentiert.

Ihre Renten sind im OECD-DurchschnittExterner Link 25% niedriger als die der Männer – und in der Schweiz sogar fast ein Drittel. Diese Kluft werd in Zukunft «wahrscheinlich hoch bleiben», aber «die Verbesserung der Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt wird dazu beitragen, sie zu verringern», stellt die Organisation fest.

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Bevor eine Anhebung des Rentenalters in Erwägung gezogen wird, hält der VPOD eine Erhöhung der Renten für vorrangig, da die derzeitigen Beträge der ersten Säule allein kein menschenwürdiges Leben in der Schweiz ermöglichen. «Nur eine Minderheit kann sich eine dritte Säule leisten, die durch private Ersparnisse finanziert wird, und mehr als 40 % der Neurentnerinnen und Neurentner haben nicht einmal eine zweite Säule», sagt die Gewerkschafterin.

Jérôme Cosandey bestreitet nicht, dass die Renten von Frauen insgesamt niedriger sind, betont aber, dass die Ungleichheiten von der Abdeckung der 2. Säule herrührten, nicht von der 1. Säule, die im Mittelpunkt des Reformprojekts steht. «Die durchschnittliche Rente in der AHV ist für beide Geschlechter fast gleich hoch, mit einem leichten Nachteil für Männer». Für den Liberalen werden «zwei wichtige, aber nicht direkt zusammenhängende Themen vermischt».

Bereits zweimal abgelehnt

Der Bundesrat sagt zwar, er sei «für die Frage der Lohnungleichheit sensibilisiert». Er ist aber auch der Meinung, dass diese «an der Quelle angegangen werden muss, wo sie auftritt», unabhängig von der Frage des Rentenalters für Frauen.

Die Regierung bewegt sich auf dünnem Eis, da sie bereits zweimal mit Plänen zur Erhöhung des Rentenalters gescheitert ist. Ein erster Versuch scheiterte 2011 im Parlament, ein zweiter («Altersrente 2020») wurde 2017 per Volksentscheid abgelehnt. Umfragen zeigten, dass Frauen das Anliegen vehement ablehnten.

Die parlamentarischen Debatten, die am Montag begannen, werden die begleitenden Ausgleichs- und Übergangsmassnahmen des Reformprojekts definieren. Die Mehrheit des Ständerats ist für eine weniger grosszügige Formel als von der Regierung vorgeschlagen. Eine schlechte Idee, um eine Abstimmung zu gewinnen, warnte Sozialminister Alain Berset am Montag. Der Sozialdemokrat sagte, die Entschädigung sei ein wesentlicher Bestandteil des Kompromisses und stehe in einem angemessenen Verhältnis.

«Es wird eine Übung in Realpolitik sein», sagt Cosandey. Es werde notwendig sein, die direkt Betroffenen zu gewinnen – denn im System der direkten Demokratie habe nun mal das Volk das letzte Wort.

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