«Die Behörden haben Angst vor den Roma, weil sie nichts über sie wissen»
Stefan Heinichen engagiert sich seit mehr als dreissig Jahren im Kampf gegen die Diskriminierung der Roma in der Schweiz und im restlichen Europa. Die Weigerung der Landesregierung, die Roma als nationale Minderheit anzuerkennen, kann er nicht nachvollziehen.
Pinsel, Farbtöpfe und überall herumstehende Leinwände. In Stefan Heinichens Atelier im Turm der Pfarrei St. Marien in Winterthur herrscht eine inspirierende Atmosphäre. «Ich male seit meiner Kindheit, komme aus einer Künstlerfamilie», verrät der Religionspädagoge.
Das Malen ist für ihn Passion und eine Form der Meditation. Auf seinen Bildern sind Familienangehörige zu sehen, Roma in Ungarn, oder Jugendliche, die regelmässig in die Pfarrei kommen. Stefan Heinichen nimmt sich dieser Jugendlichen mit Migrationshintergrund an, die er manchmal auch porträtiert oder dazu ermuntert, selbst den Pinsel in die Hand zu nehmen.
Seit 2016 vertritt Heinichen die Roma und deren Belange in der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Dem Kampf gegen Diskriminierungen, in der Schweiz wie auch in anderen europäischen Ländern, hat er sich vor mehr als dreissig Jahren verschrieben. «Behörden, Medien und Politiker haben ein stereotypes und reichlich simples Bild der Roma. Diese gelten als ärmliche Nomaden oder Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, die hierherkommen, um zu betteln und abzusahnen», erklärt er. «Wir sind daran, dieses Image auf verschiedenen Ebenen zu verändern, doch das braucht Zeit.»
Stefan Heinichen ist ein Macher. In Bulgarien, Deutschland, Italien und insbesondere in der Tschechischen Republik hat er lokale Roma-Gemeinschaften unterstützt. In der Schweiz macht er Projektarbeit, ist als Jugendarbeiter tätig, fungiert als Dolmetscher für Flüchtlinge und setzt sich als Mediator für die Fahrenden ein. Sein Wissen und seine Erfahrungen kommen den anderen Mitgliedern der Antirassismus-Kommission zugute. «Sie haben erkannt, dass die Sache viel komplexer ist, als sie zunächst glaubten», verrät Heinichen.
Das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten ist 1998 in Kraft getreten und wurde von 39 Ländern ratifiziert. Jeder Staat legt seine eigenen Kriterien fest und bezeichnet selbst die Minderheiten, die er anerkennen will. Die Schweiz wendet das Übereinkommen seit 1998 an und anerkennt darin die nationalen sprachlichen Minderheiten, die Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft sowie die Jenischen und Sinti/Manouches. Zahlreiche europäische Länder haben die Roma als nationale Minderheit im Übereinkommen aufgeführt, namentlich Deutschland, Österreich und Spanien. Demgegenüber anerkennt Italien die Roma nicht und wird vom Europarat regelmässig für seine repressive Politik gegenüber dieser Gemeinschaft gerügt.
Keine Anerkennung als nationale Minderheit
Der Entscheid des Bundesrats vom vergangenen Juni hat ihn in Rage versetzt. Die Landesregierung hat es abgelehnt, die Roma als nationale Minderheit anzuerkennen, da die Kriterien für eine solche Anerkennung nicht erfüllt seien. Die Schweiz hat das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten ratifiziert und in diesem die Angehörigen der nationalen sprachlichen Minderheiten, die Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft und die Fahrenden aufgeführt. Auf Antrag der mehrheitlich sesshaften Gemeinschaften, die eine Benennung «gemäss der Selbstbezeichnung» der Minderheiten verlangten, hat die Schweiz in der Folge den Begriff «Fahrende» durch Jenische und Sinti/Manouches ersetzt. Daraufhin stellten Roma-Verbände den Antrag, ihre Gemeinschaft sei ebenfalls als nationale Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens anzuerkennen. Ein entsprechendes Gesuch wurde 2015 eingereicht.
Der Bundesrat erinnert in seiner Medienmitteilung an die für die Anerkennung als nationale Minderheit festgelegten Kriterien: «In der Schweiz sind nationale Minderheiten im Sinne des Rahmenübereinkommens die Gruppen von Personen, die dem Rest der Bevölkerung des Landes oder eines Kantons zahlenmässig unterlegen sind, die schweizerische Staatsangehörigkeit besitzen, seit langem bestehende, feste und dauerhafte Bindungen zur Schweiz pflegen und von dem Willen beseelt sind, zusammen das zu bewahren, was ihre gemeinsame Identität ausmacht.»
Als Begründung für seinen ablehnenden Entscheid bekräftigt der Bundesrat lediglich, das Kriterium der Schweizer Staatsangehörigkeit und der Willen, die gemeinsame Identität zu bewahren, seien nicht genügend belegt. Zudem sei das Kriterium der seit langem bestehenden Bindungen zur Schweiz nicht erfüllt.
Mehr Informationen über die Roma
In Europa leben zwischen 10 und 12 MillionenRoma. Sie stellen damit im europäischen Raum die grösste ethnische Minderheit dar. Aus Indien stammend, gelangten sie um das 15. Jahrhundert nach Westeuropa. Sie sprechen Romanes, eine indoarische Sprache, die eng mit der volkssprachlichen Grundlage des Sankskrit verwandt ist. Die Roma sind sozial in Familienverbänden organisiert und bilden verschiedene Untergruppen: die Sinti, Kalderaša, Lovara, Čurara, Mačvaja, Ursara, Xaladitka, Xoraxane etc. In europäischen Ländern wurden die Roma Opfer gewaltsamer Repression. Noch bis Ende des 20. Jahrhunderts wurden sie umgebracht, eingesperrt, vertrieben oder zur Zwangsarbeit herangezogen. Noch heute sind sie zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt.
«Ich glaube, dass dies ein politischer Entscheid ist», erklärt Heinichen. «Die Behörden haben Angst, weil sie nichts über die Roma wissen.» Dabei haben die Verbände, die den Antrag auf Anerkennung gestellt haben, historische Dokumente und Expertengutachten über die Roma und die Schweiz vorgelegt. «Der Bundesrat war im Besitz dieser Informationen, hat sich aber nicht dafür interessiert», bedauert Heinichen. Das fehlende Wissen der Behörden und der breiten Öffentlichkeit erklärt er sich damit, dass die Roma keine homogene Gruppe bilden; sie kommen aus verschiedenen Ländern und funktionieren nach anderen, stark auf die Familie ausgerichteten Strukturen. Zudem ist ihre Kultur im Wesentlichen eine mündliche.
Nach Ansicht des Religionspädagogen sollten schon die Schulen zuverlässige Informationen über die verschiedenen Minderheiten bereitstellen, um die Bevölkerung zu sensibilisieren und einzubeziehen. «Die Roma werden noch immer als Fremde behandelt», sagt Heinichen mit Bedauern. «Die Anerkennung als nationale Minderheit hätte einen gewissen Schutz gebracht und in rechtlicher Hinsicht klargestellt, dass wir Teil der Schweizer Gesellschaft sind.» Dennoch vermutet Heinichen, dass dieses Vorgehen in der Praxis nicht unbedingt viel verändert hätte. Er erwähnt in diesem Zusammenhang Deutschland, das die Roma zwar anerkennt, jedoch einen Aufschwung der extremen Rechten erlebt, die allen Minderheiten feindselig gegenübersteht.
Konflikte innerhalb der Minderheiten
Heinichen erklärt sich die Ablehnung des Bundesrats auch mit den Spannungen, die unter den verschiedenen Minderheitengemeinschaften in der Schweiz herrschen: «Auch die anderen Minderheiten haben Angst, weil sie wissen, dass die Roma ihnen zahlenmässig überlegen sind.» Das Bundesamt für Kultur (BAK) schätzt die Zahl der Schweizerinnen und Schweizer jenischer Abstammung auf 30’000 und jene der Sinti/Manouches auf mehrere Hundert. Die Roma-Verbände wiederum gehen von mehr als 80’000 Schweizerinnen und Schweizern aus, die von Roma abstammen.
Bei diesen Zahlen handelt es sich um Schätzungen, da all diese Gemeinschaften verfolgt, eingesperrt und in der Schweiz wie auch im restlichen Europa noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vertrieben worden sind. Während des Zweiten Weltkriegs wurden mehr als 500’000 Roma (in Deutschland ist das Wortpaar Sinti und Roma gebräuchlich) von den Nazis umgebracht, und in der Schweiz wurden Kinder von Jenischen noch bis in die 80er Jahre von ihren Eltern getrennt und zwangsplatziert. Angehörige dieser Gemeinschaften mussten ihre Herkunft geheimhalten, um Repressionen zu vermeiden, und einige tun dies noch heute, um Diskriminierungen zu entgehen.
Der Entscheid des Bundesrates, die Roma von den nationalen Minderheiten auszuschliessen, ist nicht dazu angetan, die unter den Gemeinschaften bestehenden Spannungen abzubauen. Zumal die Sinti anerkannt werden, obwohl sie eine Teilgruppe der Roma darstellen und wie diese Romanes sprechen. Als Reaktion auf die Nichtanerkennung haben sich die Roma in einem Schreiben an Ignazio Cassis, den für das Dossier zuständigen Bundesrat, gewandt. Zu Beginn des kommenden Jahres soll zudem ein Treffen zwischen den Roma und der Antirassismus-Kommission stattfinden.
Gleichzeitig mit seiner Ablehnung, die Roma als nationale Minderheit anzuerkennen, präzisiert der Bundesrat, diese seien «ein anerkannter Bestandteil der Schweizer Gesellschaft». Er fügt hinzu, die Roma seien auf Bundesebene in mehreren Instanzen vertreten und der Bund finanziere regelmässig Roma-Projekte. Auch der Europarat hat einen Aktionsplan aufgestellt, um die Roma besser zu integrieren. Doch Heinichen findet, es sei nur wenig erreicht worden: «Wenn ich auf die letzten dreissig Jahre zurückblicke, finde ich, dass wir einen Schritt zurück gemacht haben. Die Vorurteile sind nicht weniger geworden. Es besteht ein grosser Unterschied zwischen Theorie und Praxis, weil es am politischen Willen fehlt.»
Die Position des Bundes
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat gegenüber swissinfo.ch zusätzliche Erklärungen zur Nichtanerkennung der Roma als nationale Minderheit abgegeben. Es vertritt zunächst die Ansicht, Roma und Sinti hätten in der Schweiz nicht die gleiche Geschichte und Letztere seien auf Schweizer Staatsgebiet seit längerem präsent.
Zudem habe der Bund bei der Unterzeichnung des Rahmenübereinkommens die Sinti zusammen mit den Jenischen genannt, mit dem Ziel, eine nomadische oder semi-nomadische Lebensweise zu schützen, derweil die Roma sesshaft seien. Das EDA erachtet überdies die Angaben zu den Roma mit Schweizer Staatsbürgerschaft für zu ungenau, da die von den Roma-Organisationen angegebene Zahl von 30’000 Personen auf einer Extrapolation beruhe.
Ferner vertreten die Bundesbehörden die Ansicht, es lägen keine Informationen zu den Mitgliedern der Roma-Organisationen und deren Verankerung bei den Roma mit schweizerischer Staatsangehörigkeit vor. Das Kriterium der seit langem bestehenden Bindungen zur Schweiz sei nicht erfüllt, da «die zur Verfügung stehenden Fakten darauf hinweisen, dass die meisten der heute in der Schweiz ansässigen Roma jüngeren Migrationsströmen entstammen», so das EDA.
Abschliessend wird betont, die Roma seien gut integriert und hätten die gleichen Rechte wie alle anderen Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Das EDA ist daher der Ansicht, die Nichtanerkennung dürfe die seit Jahren bestehende Zusammenarbeit zwischen Roma-Organisationen und den Behörden nicht gefährden.
(Übertragung aus dem Französischen: Cornelia Schlegel)
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