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Angejahrte Objekte mit Patina finden neue Bewunderer

Diese ältere Corbusier-Liege mit seltenem Apfelschimmel-Fell ist schon fast ein Museumsstück. Nicolas Duc/Design+Design

Gegenstände aus zweiter Hand, früher eher etwas für Bedürftige, werden auch in der Schweiz immer beliebter: Menschen lieben so genannte Vintage-Sachen für deren Beständigkeit – und für das, was sie über den Käufer aussagen.

Ein rosafarbenes Gebäude, zu Fuss nicht weit vom Bahnhof Zürich entfernt, zieht Kenner an, die ungewöhnliche Möbel oder Mode suchen. Anders als viele Trödlerläden, die oft unübersichtlich oder muffig wirken, gleicht das Zürcher Brockenhaus einem normalen Kaufhaus.

«Das sieht schön aus», sagt eine Frau zu einer jüngeren Begleiterin, die eine grüne Seidenjacke mit glitzernden Knöpfen anprobiert. Das Kleidungsstück sieht aus wie etwas, das die ältere der Frauen vielleicht in ihren jüngeren Jahren, in den 1960ern, selbst getragen haben könnte.

Im oberen Stock inspiziert ein Paar mittleren Alters Esstische. Die Frau fährt mit der Hand über die Holzoberfläche eines Tisches, der alt genug aussieht, als ob er schon dort gestanden haben könnte, als die «Brocki» 1904 den Betrieb aufnahm. Und der Mann lehnt sich an den Tisch, als ob er den Zustand der Tischbeine testen wollte.

«Scheint schön und robust zu sein», sagt er und nickt anerkennend.

Ueli Müller, Manager des Zürcher Brockenhauses, erklärt, viele Leute hätten eine Leidenschaft für alte Dinge, wie wenn solche älteren Objekte «irgendwie einen gewissen Mehrwert» hätten.

Jedes Jahr verkauft das Brockenhaus eine halbe Million Gegenstände – alles, vom Löffel bis zum Buffet. Das Geschäft läuft so gut, dass der Laden jedes Jahr rund 250’000 Franken für wohltätige Zwecke spenden kann.

Hoch im Kurs

«Stühle, Lampen und Keramik sind Objekte, die sehr beliebt sind, da sie immer einen Platz in einer Wohnung finden», erklärt Joan Billing, eine Schweizer Trendforscherin und Mitbegründerin der «Design+Design.ch», der jährlichen Messe für Vintage-Möbel.

Als sie sich vor 25 Jahren für Vintage-Artikel zu interessieren begann, war diese Szene von Fachspezialisten, Kunsthistorikern und Sammlern geprägt, wie Billing gegenüber swissinfo.ch sagt. «Dieser Kreis hat sich im Verlauf der Zeit und vor allem in den letzten 10 Jahren stark ausgeweitet.»

Als sie vor acht Jahren den Salon für Vintage-Möbel «D+D» geöffnet hätten, «mussten wir Pionierarbeit leisten, denn erst heute nehmen die Schweizer diesen Trend wirklich bewusst wahr», sagt Billing weiter. Bei den am Salon präsentierten Vintage-Möbeln handelt es sich um Design-Klassiker aus dem 20. Jahrhundert, insbesondere aus den 1920er- bis 1980er-Jahren.

  

Dass Vintage mittlerweile auch zu einem Thema für Museen wurde, habe dazu beigetragen, dass das Konzept ernster genommen werde und an Bedeutung gewonnen habe, so Billing.

Das Museum für Gestaltung in Zürich erforscht das Thema in seiner aktuellen Ausstellung «Vintage – Design mit bewegter Vergangenheit». Vintage, schreibt das Museum, stehe somit auch für die Wertsteigerung, die ein Objekt durch Alterung und Selektion erfahre.

Im Vergleich zur lebendigen Atmosphäre eines Flohmarkts, Brockenhauses oder Trödlerladens kommt die Ausstellung ziemlich nüchtern daher.

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Echte Vintage-Objekte stehen darin neben Reproduktionen und neu hergestellten Objekten, die bewusst auf alt oder gebraucht getrimmt wurden.

Ein Höhepunkt für Kuratorin Karin Gimmi ist ein Orient-Teppich, der so gewoben wurde, dass die Illusion entsteht, er sei abgenutzt – obschon die «abgenutzten» Teile effektiv den dichtesten Flor aufweisen.

Nostalgisch

«In Zeiten der Massenproduktion gibt es eine Gegenbewegung», erklärt Brockenhaus-Manager Ueli Müller. «Die Leute suchen einmalige Objekte und Geschichten aus der Vergangenheit.»

Gimmi stimmt zu, dass gewisse Leute davon träumten, in einer bestimmten Epoche der Geschichte zu leben: «Dinge aus der Vergangenheit zu besitzen, kann uns das Gefühl geben, wir seien ein Teil davon.»

Der Wirtschaftspsychologe Christian Fichter erklärt, solche geschichtlichen Epochen könnten auch bloss in der jüngeren Vergangenheit liegen, etwa in den früheren Lebensjahren einer Person.

Oft höre man Menschen sagen, in der guten alten Zeit sei alles besser gewesen. «Psychologen konnten aufzeigen, dass Leute dazu tendieren, schlechte Erinnerungen auszulöschen und vor allem die guten Dinge in Erinnerung zu behalten», erklärt Fichter. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass Menschen sich von Objekten angezogen fühlen, die sie an ihre Jugend erinnern.

Doch ein Gefühl von Nostalgie ist kaum der einzige Antrieb für die Nachfrage nach Vintage-Objekten. Fichter sagt, die Leute kauften sie auch, um eine Aussage zu machen.

«Jemand könnte zum Beispiel sagen: ‹Ich habe einen nachhaltigen Einkauf getätigt. Ich könnte etwas Teures kaufen, tue dies aber bewusst nicht, weil ich lieber etwas nutze, dass sonst weggeworfen worden wäre'», erläutert er.

Handle es sich bei dem Kauf hingegen um ein teures Designer-Objekt, könne es eine Art Statement sein, in der Art «Ich habe einen guten Geschmack, schau Dir meinen Charles-Eames-Sessel an oder meine Le Corbusier-Liege an».

Billing sagt, Menschen in der Schweiz seien schon immer sehr bewusst sparsam und sorgfältig mit ihren Ressourcen und ihren Sachen umgegangen. So sei auch das Vererben und Weitergeben von Vintage-Möbeln schon immer ein Thema gewesen. Ein Trend, der sich heute noch verstärkt habe.

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Langlebig

Ein weiteres Verkaufsargument für Vintage-Sachen ist für Müller die gute Qualität. «Alte Dinge sind in der Regel sehr robust. Nehmen Sie zum Beispiel das Rössler-Geschirr, das zurzeit im Museum [für Gestaltung] zu sehen ist. Es gehört zum strapazierfähigsten Geschirr, das je gemacht wurde», sagt Müller und fügt hinzu, das gelte oft auch für alte Möbel.

«Man kann einen alten Schrank 20 Mal auseinandernehmen [und wieder zusammensetzen], er ist ein ständiger Begleiter in einem Haushalt. Aber mit modernen Schränken geht das höchstens zwei Mal, dann fallen sie auseinander. Es ist schrecklich. Ich weiss nicht, wieso man solche Dinge produziert», so Müller.

Fichter stimmt zu, dass Konsumentinnen und Konsumenten die Wegwerf-Mentalität langsam satt hätten.

«Es gibt eine Gegenbewegung zur Flüchtigkeit, die heute mit Blick auf den Konsum, aber auch generell herrscht», sagt Fichter. «Die Leute werden von nachhaltigen Dingen angezogen.»

Retro

Es gibt Menschen, die einfach etwas in einem bestimmten Stil suchen, Leute, denen es unter Umständen egal ist, ob etwas ein echter Vintage-Artikel ist oder nicht.

Vintage – Design mit bewegter Vergangenheit bietet eine Mischung von echten Vintage-Artikeln und solchen, die so produziert wurden, dass sie alt aussehen – wie Sonnenbrillen, Turnschuhe und Jeans.

Zur Ausstellung gehört auch ein Video, das die Gesundheitsrisiken zeigt, denen die Arbeiter der Textilindustrie beim Sandstrahlen von Jeansstoff ausgesetzt sind.

Zudem gab das Museum ein Video in Auftrag, das Handwerker in Indien bei der Produktion von Schränken im «schäbig-schicken» Stil zeigt, komplett, inklusive abblätternde Farbe und Schrammen.

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Gimmi hält trocken fest, dass niemand in Indien Interesse hätte, solche Schränke zu kaufen, was Fichter logisch findet. «In Ländern wie Indien verhalten sich die Menschen heute wie wir vor 30 Jahren, als die Leute in der Schweiz neue, glänzende Dinge wollten», sagt Fichter. Das sei heute nicht mehr der Fall. «Heute ziehen die Leute Minimalismus und Understatement vor.»

Laut Fichter unterscheidet die Kaufkraft die Schweiz von anderen Nationen. «Schweizer können sich teure Möbel leisten. Sie können auswählen, was sie wollen. Aber was sie wollen, unterscheidet sich nicht unbedingt gross von dem, was andere Europäer wollen.»

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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