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«Angst vor der ‹Ndrangheta haben, ohne den Kopf zu senken»

Foto aus dem Film des Treffens von Mitgliedern der 'Ndrangheta im Kanton Thurgau. swissinfo.ch

Der Kampf gegen die 'Ndrangheta ist kompliziert und teuer. Um die Präsenz der kalabrischen Mafia auf ihrem Territorium zu bekämpfen, müsse die Schweiz über realitätsnähere Verfahren verfügen und besser mit Italien kommunizieren. Dies sagt Nicolas Giannakopoulos, Präsident des Organized Crime Observatory in Genf, im Interview.

Die ‹Ndrangheta kennt keine Krisen, und sie ist auch in der Schweiz gut verankert. Dies zeigen die jüngsten Operationen gegen das organisierte Verbrechen in Italien, in deren Zusammenhang auch zwei in der Schweiz wohnhafte Personen inhaftiert wurden. Zudem zeigte ein im Internet publizierter Film ein geheimes Treffen von ‹Ndrangheta-Männern im Kanton Thurgau. Die Mitglieder der «Società di Frauenfeld» sprechen darin über Erpressung und Dogenhandel.

Nicolas Giannakopoulos, Präsident des Genfer Organized Crime Observatory. DR

swissinfo.ch: Das Lokal eines Boccia-Klubs in Wängi bei Frauenfeld wurde ebenfalls von der Mafia benutzt. Erstaunt sie das?

Nicolas Giannakopoulos: Überhaupt nicht. Die ‹Ndrangheta organisiert ihre Treffen ein wenig überall. In Mailand wurden etwa Gemeinschaftszentren oder sogar Pflegeheime für Treffen benutzt.

Ein anderer Aspekt des Films aber überrascht mich: Wenn die Männer über Drogen sprechen. Wir dachten, dass der Heroinhandel von den Albanern beherrscht wird, und jener für Kokain von den Nigerianern und Lateinamerikanern. Die Schweiz ist jedoch zu einem grossen Markt geworden, und die Menge an Drogen, die in Zürich oder Genf zirkuliert, ist enorm. Diese müssen von irgendwoher kommen, und dabei könnte die ‹Ndrangheta eine Rolle spielen.

swissinfo.ch: Wie verhalten sich die Zellen der ‹Ndrangheta in der Schweiz?

N.G.: Gleich wie all die anderen, die in der ganzen Welt verstreut sind. Die Zellen decken ein bestimmtes Territorium ab und sind abhängig von einer bestimmten Familie in Kalabrien. Sie haben die Aufgabe, eine ganze Reihe von Aktivitäten aufzubauen, sei es legaler wie auch illegaler Art. Es gibt nur wenige Länder, die immun sind gegen die ‹Ndrangheta.

Die Milliarden der ‹Ndrangheta

Laut einer StudieExterner Link des italienischen Instituts Demoskopika vom März 2014 gehören der ‹Ndrangheta etwa 60’000 Personen an, die in rund 400 Banden (‹Ndrine) organisiert und in 30 Ländern aktiv sind.

Ihr Umsatz wird auf jährlich etwa 53 Mrd. Euro geschätzt, was 3,5% des Bruttoinland-Produkts von Italien entspricht.

Die kalabrische Mafia generiere damit gleich viel wie die Deutsche Bank und McDonald’s zusammen, stellt die Studie fest, die sich auf Dokumente des italienischen Innenministeriums, der Polizei, der Parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission und der Direktion der Anti-Mafia-Ermittlungen stützt.

Die Gelder stammen aus dem Drogenhandel (24,2 Mrd. €), aus Geldwäscherei-Aktivitäten (19,6 Mrd. €), aus Erpressung und Wucher (2,9 Mrd. €), aus öffentlichen Aufträgen (2,4 Mrd. €) und aus Glücksspielen (1,3 Mrd. €). Mit Waffenhandel macht die ‹Ndrangheta einen Umsatz von 700 Mio. €.

swissinfo.ch: Die ‹Ndrangheta ist seit 40 Jahren in der Schweiz tätig. Doch bis heute hat es keine spektakulären Verhaftungen gegeben. Weshalb nicht?

N.G.: Die Untersuchungen werden in Italien durch italienische Staatsanwälte geführt, die dafür oft in die Schweiz kommen, um Verhöre oder Recherchen für Interpol durchzuführen. In der Schweiz gab es nie grossangelegte Operationen, auch weil es sich um ein kleines Land handelt.

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es in der Vergangenheit Anti-Mafia-Operationen in einem gewissen Umfang gab, die gemeinsam mit anderen Ländern durchgeführt wurden. Denken wir beispielsweise an jene im Zusammenhang mit den sizilianischen Klans der «Pizza Connection», oder an die Affäre des ehemaligen Tessiner Richters Franco Verda und des Zigarettenschmugglers Gerardo Cuomo.

swissinfo.ch: Der Schweizer Bundesanwalt Michael Lauber hat unterstrichen, dass sich die Schweiz auf die Rechtshilfe an Italien konzentriert. Beweise sammeln ist aber eine sehr kostspielige Angelegenheit…

N.G.: Es war gut, dass er den Akzent auf jenen Aspekt gelegt hat. Das Sammeln von Beweisen gegen kriminelle Organisationen, die gut strukturiert sind und vorsichtig agieren, ist sehr schwierig und teuer. Nötig wären Verfahren, die näher an der Realität sind, und vor allem mehr Mittel, auch moderne. Ich denke beispielsweise an Abhör- oder Überwachungs-Möglichkeiten.

swissinfo.ch: Nach einer neusten Operation gegen die ‹Ndrangheta in Italien, die zur Inhaftierung von gut zwanzig Personen führte, sagte der Untersuchungsrichter der kalabrischen Stadt Catanzaro, dieser Klan «beschafft sich kontinuierlich Waffen aus der Schweiz». Warum gerade die Schweiz?

N.G.: In der Schweiz war es relativ einfach, Handfeuerwaffen wie Pistolen und kleine Gewehre zu kaufen. Heute aber sieht die Situation anders aus. In gewissen französischen Städten oder auf dem Balkan ist es einfacher, Waffen zu beschaffen.

In meinen Gesprächen mit italienischen Justizbeamten habe ich festgestellt, dass diese eine etwas veraltete Sicht auf die Schweiz haben. Es hat sich vieles verändert, hier; von den Gesetzen über die Rechtsverfahren, namentlich was die Geldwäscherei betrifft. Die Schweiz sollte besser kommunizieren, was sie unternimmt und was sich verändert hat.

swissinfo.ch: Wie bewerten Sie generell die Haltung der Schweizer Behörden gegenüber der ‹Ndrangheta?

N.G.: Ich denke, diese Sache wird sehr ernst genommen. Es gibt Berichte, darunter jener der Bundespolizei, in jenen dieser Typus von krimineller Organisation als Bedrohung für die innere Sicherheit bezeichnet wird. Doch man kann sich immer verbessern. Die italienischen Behörden verbessern ihre Untersuchungs- und Reaktionskapazitäten seit Jahrzehnten.

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Die Schweiz hat Gesetze gegen das organisierte VerbrechenExterner Link zur Verfügung, die von den Justizbehörden aber nur sehr selten benutzt werden. So wie der Strafgesetzbuch-Artikel, der besagt, dass eine kriminelle Organisation über geheime Mitglieder und Strukturen verfügt, formuliert ist, ist er inkonsistent. Denn vom Moment an, wo man sich über Struktur und Mitglieder nicht mehr klar ist, wird der Artikel nur noch schwer anwendbar. Das ist kein gesetzgeberisches Problem, sondern eines der Kultur und der Frage, was man unter organisierter Kriminalität versteht.

swissinfo.ch: Besteht die reale Gefahr, dass die kalabrische Mafia in der Schweiz die Wirtschaft, die Finanzwelt oder die Politik untergraben könnte?

N.G.: Wenn wir die Fakten anschauen, ist das bei der Wirtschaft bereits der Fall. Seit 40 Jahren kauft die ‹Ndrangheta Immobilien in der Schweiz und tätigt in diesem Bereich Investitionen. Für eine Unterwanderung von Finanz und Politik aber gibt es keine klaren Anzeichen.

Einerseits haben die Banken und die Finanzdienstleister ihre Normen verschärft. Andererseits aber arbeiten sie weiter mit langjährigen Kunden zusammen, von denen sie glauben, diese gut zu kennen. Wenn jemand mit ein paar Millionen an der Tür klopft, gibt es immer noch Lösungen…

swissinfo.ch: Heute steht die ‹Ndrangheta im Scheinwerferlicht. Was können Sie über die anderen Mafia-Organisationen sagen, die ebenfalls in der Schweiz tätig sind?

N.G.: Sizilianer, die Camorra, Albaner, Chinesen, Nigerianer, Brasilianer, Kolumbianer, Mexikaner, … die Liste ist lang.

swissinfo.ch: Gibt es Grund zur Angst?

N.G.: Vor kriminellen Organisationen muss man immer Angst haben, besonders vor der ‹Ndrangheta. Sie ist gefährlich, auch weit weg von Kalabrien. Man darf sich aber nicht von der Angst beeinflussen lassen und den Kopf senken. Der Richter Borsellino sagte: «Einer, der Angst hat, stirbt jeden Tag.».

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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