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«Ich werde wie eine Ausserirdische angeschaut»

Anne Caillaut-Pesquer
Anne Caillaut-Pesquer lebt in Genf und arbeitet als Personalchefin für die französische Agglomeration Annemasse. swissinfo.ch

In der Schweiz leben und in Frankreich arbeiten, geht diese Rechnung auf? Für einige schon, wie das Beispiel von Anne Caillaut-Pesquer zeigt. Doch die in Genf lebende Französin gibt zu, die finanzielle Gleichung wäre schwer zu lösen, würde ihr Mann nicht in der Schweiz arbeiten.

Anne Caillault-Pesquer scheint gegen den Strom zu schwimmen. Und das aus gutem Grund: Seit fast zehn Jahren lebt die Französin aus der Champagne im Herzen der Stadt Genf, während sie als Personalchefin für die französische Agglomeration Annemasse arbeitet. Annemasse liegt im Departement Hochsavoyen und grenzt an den Kanton Genf.

Trotz «eines sehr guten Gehalts im französischen öffentlichen Dienst» gibt die 44-jährige Mutter zu: Sie könnte dies nicht tun ohne das Gehalt ihres Mannes, eines Bankiers in Genf. «Es ist schwierig, Grenzgängerin in Gegenrichtung zu sein, ohne auf ein Schweizer Einkommen zu zählen. Allein unsere Miete ist höher als mein Monatslohn», sagt sie.

Auch wenn sie in der Schweiz das Dreifache verdienen könnte, wollte sie bis jetzt nicht dem Job, den sie liebt, den Rücken kehren. Ihre Situation führt bei Gesprächspartnern oft zu grossem Staunen: «Ich werde wie eine Ausserirdische angeschaut», sagt sie.

«Wenn ich sage, dass ich Französin bin, reagieren einige manchmal etwas zurückhaltend. Aber darüber hinaus geht es nicht.»

Caillault-Pesquer studierte und unterrichtete Recht an der Universität Paris. Dann bestand sie den «Concours», der die Türen des öffentlichen Dienstes in Frankreich öffnet. «Als mein Ehemann nach Genf versetzt wurde, erhielt ich ebenfalls eine Versetzung nach Annemasse, damit ich meine Karriere nicht unterbrechen musste.»

In ihrem Beruf hat sie eine gewisse Flexibilität. Sie konnte sogar zwei Jahre lang von London aus arbeiten, als ihr Mann einen Job in der britischen Hauptstadt hatte.

Keine Staus

Ein weiterer Vorteil, der sich nicht von der Hand weisen lässt – besonders nicht für sie, die das Chaos des Pariser Verkehrs gewohnt war: Am Morgen gehört die Strasse zwischen Genf und Annemasse praktisch allein Anne Caillault-Pesquer. In nur zwanzig Minuten ist sie an ihrem Arbeitsplatz. In der Gegenrichtung kommen ihr all die Grenzgänger entgegen, die in die Schweiz zur Arbeit fahren und gezwungen sind, oft Stunden im Verkehr zu verbringen.

«In Zukunft könnte ich aber nicht mehr in Frankreich leben», sagt sie. Sie schätzt den Geist der Offenheit im internationalen Genf, die Nähe zur Natur und die Perspektiven, welche die Schweiz ihren Kindern bietet. Beide besuchen die französische Schule.

«Ich möchte, dass sie die französische Kultur erlernen, besonders unsere ereignisreiche Geschichte. Aber auch, dass sie von den Schweizer Eigenheiten profitieren können.» So schätzt sie besonders, dass sie auch Deutsch lernen: «Hier beginnt mein Sohn bereits mit neun Jahren, Deutsch zu lernen. Das ist genial.»

Genève
Anne Caillault-Pesquer schätzt das Leben in Genf, wie auch dessen internationale Ambience. swissinfo.ch

Caillault-Pesquer ist beunruhigt über die hohe Arbeitslosigkeit in Frankreich, weshalb sie die Zukunft ihrer Familie in der Schweiz sieht. «Frankreich geht es schlecht. Viele Junge sind ohne Arbeit, weshalb sie auswandern», hält sie fest.

Für sie ist das duale System (praktische Berufslehre mit begleitender Theorie an einer Berufsschule) ein Erfolgsfaktor der Schweiz. «In Frankreich gilt eine Berufslehre wenig oder ist nur für Handwerksberufe bestimmt, während dieser Bildungsweg hier weit verbreitet und besonders geschätzt ist.»

«Zurückhaltende Reaktion»

Doch trotz seiner internationalen Ausprägung ist Genf nicht immer nett zu seinen Nachbarn. Der Anfang der Kampagnen für die kantonalen Genfer Wahlen vom 15. April fällt zusammen mit einer neuen Welle von Angriffen populistischer Parteien auf Grenzgänger.

So hat das Mouvement Citoyen Genevois (MCG) eine Initiative namens «Grenzgänger: Stop!» lanciert. Und die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) überbietet diese mit ihrem Text «Genf zuerst». Darin will sie einen Inländervorrang bei der Jobbesetzung in der Kantonsverfassung verankern.

Auch wenn die Plakate und die zum Teil gehässigen Äusserungen gegenüber den Grenzgängern sie herausfordern, gibt sich Caillault-Pesquer optimistisch: «Viele MCG-Plakate werden heruntergerissen. Das zeigt, dass die Genferinnen und Genfer dies schockierend, ja sogar beschämend finden. Es werden also nicht alle diese Partei wählen. Ich habe Hoffnung!»

Im Alltag fühlt sich die umgekehrte Grenzgängerin nicht diskriminiert. «Bei gleichen Qualifikationen schockiert mich der Inländervorrang nicht», gibt sie zu. Zwar sei die Integration in Genf nicht einfach gewesen. Doch heute fühlt sie sich dort wohl.

«Wenn ich sage, dass ich Französin bin, reagieren einige manchmal etwas zurückhaltend. Aber darüber hinaus geht es nicht.» Wenn sie in der Schweiz arbeiten würde, könnte sie sich sicher besser ins Lokalleben integrieren. «Man darf aber nicht vergessen, dass das öffentliche System in den beiden Ländern nicht gleich ist. Ich bräuchte deshalb eine Anpassungsphase.»

Klar ist ihre Situation nicht am lukrativsten, doch das sei nicht, wonach sie suche. «Was ich will, ist eine interessante Arbeit in einer angenehmen Atmosphäre», sagt sie. Und es spiele keine Rolle, auf welcher Seite der Grenze, die ohnehin sehr durchlässig sei.

Grenzgänger in Gegenrichtung: Kaum bekannte Minderheit

«Es sind nur wenige, man kennt sie kaum, und trotzdem gibt es sie.» So definiert das «Groupement transfrontalier européen» (GTE) jene, die «Grenzgänger in Gegenrichtung» genannt werden, weil sie in der Schweiz leben und im Ausland arbeiten.

In der Region Genf leben laut GTE 500 Personen, die im Departement Hochsavoyen arbeiten.

Die Zahl sei stabil, sagt Laurence Coudière, Kommunikationsverantwortliche beim GTE: «Oft sind es französisch-schweizerische Paare, von denen eine Person ihre Wohnung in der Schweiz und die andere ihre Arbeit in Frankreich behalten will.»

Die meisten Grenzgänger in Gegenrichtung arbeiten in Liechtenstein. Rund 10’000 in der Schweiz lebende Personen gehen täglich dort zur Arbeit.

Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) lebten zwischen 2014 und 2016 rund 23’000 Personen in der Schweiz, die im Ausland einer Arbeit nachgingen. Etwas über die Hälfte waren Ausländerinnen und Ausländer, die anderen Schweizerinnen und Schweizer.

Damit hat sich die Zahl der Grenzgänger in Gegenrichtung innert 15 Jahren mehr als verdoppelt, denn zwischen 2002 und 2004 waren es rund 11’000 Personen.

Doch sie bleiben eine sehr kleine Gruppe, im Vergleich zu den etwa 320’000 Europäerinnen und Europäern, die fast täglich zur Arbeit vom Ausland in die Schweiz kommen.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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