Ansturm syrischer Flüchtlinge in Mailand
Die Stadt Mailand, nur 40 Kilometer südlich der Schweizer Grenze, ist zur grossen Durchgangsstation für syrische Kriegsflüchtlinge auf ihrem Weg nach Nordeuropa geworden. Eine Minderheit will in die Schweiz weiter reisen. Ein Augenschein in der lombardischen Metropole.
Das Chaos in Milano Stazione Centrale, dem Hauptbahnhof MailandsExterner Link, ist schon unter normalen Umständen gewaltig. Tausende von Menschen hetzen zu den Zügen, andere warten ungeduldig vor den Anzeigetafeln. Durch die hohen Hallen dröhnen ständig unverständliche Lautsprecherdurchsagen.
Doch in diesen Monaten ist das Chaos noch grösser als gewöhnlich. Auf den Abgängen in der Haupthalle hat die Stadt Mailand eine provisorische Empfangsstelle für Flüchtlinge eingerichtet. «Emergenza Siria» (Notfall Syrien) steht auf weissen Blättern, die notdürftig an die Wand geklebt sind. Freiwillige kümmern sich um die Neuankömmlinge.
Auf einer Seite werden die Flüchtlinge registriert, um sie am Abend mit Hilfe des Zivilschutzes auf die Durchgangszentren zu verteilen. Auf der anderen Seite werden Speisen und Getränke abgegeben. Ein Wickeltisch steht neben einer Kiste mit Hygieneartikeln. Kleinkinder werden hier medizinisch betreut. Helfer geben auch Chips für den Gang zur Toilette ab. Jeder WC-Besuch kostet die Stadt einen Euro. «Da kommt etwas zusammen“, sagt ein Helfer der Stiftung Progetto Arca.
Zwischen Abfall und Gepäck
Allein am heutigen Tag sind 300 neue Flüchtlinge angekommen. Sie erreichen die lombardische Hauptstadt mit Zügen von Süditalien, Reggio Calabria, Lecce oder Rom, manche auch mit Fernbussen. Die Gemeinschaft der Syrer nimmt ein ganzes Zwischengeschoss im Bahnhof ein.
Druck auf Empfangszentrum in Chiasso
Der Migrationsdruck macht sich beim Empfangs- und Verfahrenszentrum in Chiasso, dem südlichsten Anlaufpunkt für Asylsuchende in der Schweiz, deutlich bemerkbar. Im März ersuchten dort 327 Personen um Asyl, im Juni waren es 981. Die Mehrheit der Asylsuchenden in Chiasso stammte aus Eritrea. Weiterhin kommen auch viele Kriegsflüchtlinge aus Syrien.
«Solche Zahlen hatten wir zuletzt während der Kosovo-Krise Ende der 1990er-Jahre“, sagt Antonio Simona, Direktor des Zentrums. Die 130 Plätze sind ständig belegt. Es muss auf weitere Strukturen zurückgegriffen werden, beispielsweise auf eine Zivilschutzanlage in Biasca. Im Herbst wird die ehemalige Kaserne in Losone weitere 170 Plätze zur Unterbringung von Asylsuchenden bieten.
Die Mehrheit der Asylsuchenden reist mit dem Zug von Mailand nach Chiasso und wird dann von der Schweizer Grenzwacht angehalten und zum Empfangs- und Verfahrenszentrum begleitet, wo sie einer sorgfältigen und individuellen Prüfung unterzogen werden.
Männer und verschleierte Frauen sitzen auf den Bänken oder auf dem Boden, einige schlafen zwischen Abfall und Gepäck. Dazwischen spielen Kinder. Freiwillige mit roten Westen der Kinderhilfsorganisation «Save the children»Externer Link haben eine Spielecke eingerichtet. Die Zeichnungen lassen keine Zweifel zu, was diese Kinder beschäftigt: Panzer und Feuerwaffen.
Es lässt sich kaum erfassen, was diese Menschen hinter sich haben, auch wenn sie bereitwillig und mit der Hilfe von Übersetzern ihre Geschichten erzählen. «Wir haben Syrien verlassen, weil unsere Stadt zerstört wurde», erzählt ein Mann aus Aleppo. Er ist mit seiner Familie über Ägypten nach Libyen geflohen, von dort ging es per Schiff weiter übers Mittelmeer in Richtung Italien, bis sie von der Küstenwache aufgriffen wurden.
Die Überfahrt kostete 2600 Dollar: Der Preis für zwei Erwachsene und zwei Kinder. Das wichtigste für die Familie war, Europa zu erreichen. Sie wollen nach Schweden, wie die meisten ihrer Landsleute, um ein neues Leben zu beginnen. Von Rückkehr ist keine Rede.
Schweden, Deutschland, Holland
Ein älterer Mann in gelbem Hemd zeigt auf seinem Handy eine Foto: «Das ist mein 30-jähriger Sohn; er wurde beim Bombenangriff auf unser Camp getötet.» Der Mann zeigt seinen Pass: Er ist Palästinenser und lebte seit 1948 im Flüchtlingslager Jarmuk südlich von Damaskus. Es sei immer gut gegangen, bis der Bürgerkrieg begann. Jetzt will er nach Deutschland, wo ein weiterer Sohn lebt.
Ein 23-jähriger Syrer erzählt hingegen, dass er in Neapel von der Polizei geschlagen worden sei. Man habe auch seine Fingerabdrücke genommen. Das ist nun seine Hauptsorge. «Wie kann der Eintrag wieder gelöscht werden?» fragt er.
Denn er weiss, dass er aus anderen Ländern nach Italien zurückgeschafft werden kann, wenn er dort erstmals erfasst wurde. Er gehört zu den wenigen Flüchtlingen, die in der Schweiz ihr Glück versuchen wollen. Im Bahnhof erzählt man sich Geschichten von Familien, die an der Schweizer Grenze zurückgewiesen wurden.
Polizeilich nicht erfasst
Die überwiegende Mehrheit der syrischen Kriegsflüchtlinge wird von den italienischen Behörden polizeilich gar nicht registriert. Sie gelten als «temporär anwesende Personen». Von 14’500 Flüchtlingen, die seit Oktober 2013 in Mailand Halt machten, haben laut der Stadt Mailand nur 13 einen Asylantrag in Italien gestellt. Nicht einmal ein Promille.
Für die Stadt Mailand ist die Situation kaum noch kontrollierbar. Als Transitstation steht sie vor gewaltigen logistischen Problemen. Zudem gibt es politischen Streit. Die Rechte ist der Meinung, Mailand sei dank seiner grosszügigen Hilfspolitik zu einem Anziehungspunkt für Flüchtlinge geworden. Die Stadtregierung unter dem links-demokratischen Stadtpräsidenten Giuliano Pisapia sieht sich in der Pflicht, humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge zu leisten.
Die Stimmung ist aufgeladen. Am Nachmittag unseres Besuchs präsentiert Pierfrancesco Majorino, in der Stadtregierung zuständig für Soziales, im Stadthaus Palazzo MarinoExterner Link gleich gegenüber des altehrwürdigen Opernhauses La Scala der Sozialkommission die neuesten Zahlen des Flüchtlingsstroms. Von den 14’500 Flüchtlingen, die seit Oktober im Durchschnitt für fünf Tage in Mailand Station machten, kamen 10’500 allein in den letzten beiden Monaten. 3836 waren Kinder.
Viele freiwillige Helfer im Einsatz
Zuletzt sind vermehrt auch Eritreer in der lombardischen Hauptstadt gelandet. Mailand fühlt sich von anderen Institutionen im Stich gelassen. «Wir brauchen einen Krisenstab Tavolo Milano», fordert Majorino mit Blick auf die von der Lega Nord regierte Region Lombardei, die sich bisher nicht in der Flüchtlingsbetreuung engagiert hat.
Ein gewaltiges Engagement bringen hingegen zahlreiche Hilfswerke, NGOs und Freiwillige auf. Das zeigt sich auch beim Besuch in einem von insgesamt 10 Zentren für durchreisende Flüchtlinge. Unweit der Metro-Station Uruguay hat die zur Caritas gehörende Kooperative Farsi ProssimoExterner Link ein Durchgangsheim mit 99 Plätzen im Seitenflügel eines Klosters katholischer Ordensfrauen eröffnet. Die Hilfswerke erhalten für die Betreuung pro Flüchtling und Nacht 30 Euro vom italienischen Staat.
Mehr Asylgesuche in der Schweiz
Die Schweiz verzeichnete zwischen April und Juni 2014 total 5384 Asylgesuche. Das sind 10% mehr als im ersten Quartal 2014 (4894). Allein im Juni wurden laut Bundesamt für Flüchtlinge (BfM) 2234 neue Asylgesuche registriert, 554 mehr als im Mai (+33%).
Die wichtigsten Herkunftsländer im zweiten Quartal 2014 waren Eritrea (1678 Gesuche), Syrien (1055) und Sri Lanka (214). Im Vergleich zum ersten Quartal 2014 sind die Gesuche von Personen aus Eritrea auf rund das Dreifache angestiegen (+1166 Gesuche).
Rubina empfängt uns am Eingang: «Hier finden nur Familien Unterschlupf, keine Alleinreisenden. Die meisten sind gut situiert, sogar Doktoren, denn nur solche können sich die Flucht überhaupt leisten.» Die junge Italienerin hat Arabisch studiert, Sprachkenntnisse, die in dieser Situation gefragt sind. «Im Moment ist alles ein wenig komplizierter, weil wir im Fastenmonat Ramadan sind», sagt sie.
Mehr als eine Flüchtlingswelle
Vor ihrer Tür warten schon ungeduldig einige Syrerinnen, weil heute Kleiderausgabe vorgesehen ist. Durch die hohen Gänge rennen Kinder. Eine junge Frau und Mutter von zwei Kindern erzählt, warum sie mit ihrer Familie aus Aleppo geflohen ist: «Ich hatte Angst, vergewaltigt zu werden.» Nun will auch sie ihr Glück in Nordeuropa versuchen.
Die Mitarbeitenden der Hilfswerke engagieren sich, aber sie wissen, dass ihre Arbeit nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist. Annamaria Lodi, Präsidentin von Farsi Prossimo, glaubt jedenfalls, dass der Strom an Schutz suchenden Personen anhalten wird: «Das ist keine Flüchtlingswelle, das ist ein regelrechter Exodus.»
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