Die Schweiz und der Plattenbau
Heute gelten Grossüberbauungen als hässliche, falsch geplante und problembehaftete Quartiere. Doch das war nicht immer so – und die Kritik an den architektonischen Vermächtnissen der boomenden Nachkriegszeit greift zu kurz.
Sie seien Zeugen gescheiterter Planung, städtebauliche Ärgernisse, ästhetische Verirrungen: Den Grosssiedlungen der Nachkriegsjahre sagt man heute vieles nach. Doch 1965 wurde eine solche Grossbaustelle gefeiert.
Im Oktober 1965 wurden die ersten Elemente für die industriell vorgefertigte Überbauung «Sunnebüel» in der Zürcher Agglomerationsgemeinde Volketswil versetzt. Treibende Kraft hinter dem Vorhaben war der Baulöwe Ernst Göhner, ein konsequenter Verfechter der Rationalisierung im Bauwesen und einer der ersten Schweizer Generalbauunternehmer.
Eigens für das freudige Ereignis liess die Ernst Göhner AG am Rand der Baustelle eine Tribüne bauen und lud zahlreiche Honoratioren aus Politik und Wirtschaft sowie die Presse ein.
Wer löst das Wohnungsproblem?
Damit hielt im grossen Stil eine Form des Bauens in der Schweiz Einzug, die zehn Jahre vorher in den Staaten des Warschauer Pakts zur Doktrin erklärt wurde. Nach dem Ableben des sowjetischen Diktators Josef Stalin rechnete der neue Kremlchef Nikita Chruschtschow 1954 umfassend mit seinem Vorgänger ab. Dazu gehörte auch die Abkehr von der stalinistischen Zuckerbäcker-Architektur.
Nach dem Motto «schneller, besser, billiger» sollte fortan der Wohnungsmangel mit schwerer Vorfabrikation bekämpft werden. Die sozialistischen Bruderländer fügten sich dem Credo aus der Moskauer Zentrale. So wurde ein weiterer Wettlauf der Wirtschaftssysteme lanciert: Wer löst das Wohnungsproblem schneller – die Planwirtschaft oder der freie Markt?
Neue Menschen in neuen Städten
Die Wohnungsnot drückte chronisch auf die Gesellschaften, und zwar beidseits des Eisernen Vorhangs. Der Zweite Weltkrieg hatte nicht nur zerstörte Innenstädte hinterlassen, sondern auch einen gigantischen Investitionsstau bei nichtmilitärischen Infrastrukturen, insbesondere im Wohnungsbau. Hinzu kamen nun das Wirtschaftswunder und die Generation der Babyboomer. Die Bevölkerung wuchs – und mit ihr der Wohlstand.
Als Plattenbauten werden Gebäude bezeichnet, die aus vorfabrizierten Beton-Elementen direkt auf der Baustelle montiert werden.
Umgangssprachlich bezeichnet der «Plattenbau» meist eine grosse Wohnsiedlung, oft mit günstigem Wohnraum.
Einen Bauboom erlebten sie insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahren.
Unter dem Diktat der Fünfjahrespläne entstanden im Osten fast ausschliesslich Wohnblocks in Plattenbauweise. Und weil die Kollektivierung des Bodens den Behörden die Raumplanung vereinfachte, wuchsen gigantische Quartiere und ganze Städte in fortdauernder Monotonie aus den Böden. Das war vermeintlich effizient und auch durchaus gewollt. Die neuen Menschen in den neuen Städten sollten alle möglichst gleich wohnen.
Schweizer Bauwesen als Politikum
Im Westen erschwerte das tradierte Bodenrecht die Bildung von solch gigantischen Wohnkomplexen. Doch es gab sie auch. Industrielles Bauen galt auch in der Marktwirtschaft als probates Mittel, wovon exemplarisch die Banlieues von Paris und Marseille oder die Gropiusstadt und das Märkische Viertel in Berlin zeugen. Es waren dies vornehmlich Sozialwohnungen in hochverdichteten Strukturen, denen das menschliche Mass abhandenkam.
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Die schlechteste Wohnform – aber äusserst erfolgreich
Doch zurück in die Schweiz: Auch hierzulande lag die Nachfrage nach modernen Wohnungen während des Booms der Nachkriegszeit stets weit über dem Angebot. Die Bauwirtschaft war überhitzt, und der Arbeitskräftemangel konnte auch mit den Hundertausenden von Gastarbeitern aus dem Mittelmeerraum nicht gemindert werden.
Bodenspekulation und eine immense Bauteuerung wurden seit Anfang der 1960er-Jahre zum Politikum. Leidenschaftlich wurde das Thema verhandelt, in Konferenzen unter Fachleuten, mittels politischer Vorstösse oder am Stammtisch.
Weniger Kosten, mehr Zimmer
Die mehrheitsfähigen Lösungsansätze hiessen: Rationalisierung und Industrialisierung des Bauwesens. Zusammen mit anderen Firmen gründete die Ernst Göhner AG in diesem experimentierfreudigen Klima 1965 ein erstes grosses Vorfabrikationswerk mit einer Kapazität zum Bau von 1000 Wohnungen im Jahr. Die Vorteile der Vorfabrikation lagen auf der Hand: Bauen mit Elementen ging schneller und war wetterunabhängiger. Zehn bis 20 Prozent der Kosten sollten eingespart und so zum gleichen Preis ein Zimmer mehr angeboten werden.
Die Plattenbauwohnungen von Göhner waren keine subventionierten Sozialwohnungen wie vielerorts in den westlichen Nachbarländern. Und sie wurden auch nicht durch staatliche Vergabestellen an tüchtige Arbeiterfamilien vergeben wie in den östlichen Staaten. Sie mussten sich auf dem Wohnungsmarkt behaupten, und das taten sie lange Zeit auch.
9000 Wohnungen für den Mittelstand
Schweizer Plattenbauwohnungen erfüllten hohe Ansprüche, denn sie wurden für den Mittelstand gebaut. Göhner holte renommierte Architekten und investierte viel in gut besonnte, attraktiv geschnittene Grundrisse und eine hochwertige Bau- und Siedlungsqualität. «Göhnersiedlungen» verfügten über Tiefgaragen, Spielplätze, Begegnungszonen und die notwendigen Folgeeinrichtungen wie Kindergärten oder Schulen.
Etwa 9000 Wohnungen entstanden bis in die Mitte der 1970er-Jahre nach dem System Göhner im Schweizer Mittelland. Immerhin entspricht das rund einem Viertel der jährlichen Wohnungsproduktion in der Schweiz.
Doch der Ölschock von 1973 strafte dann alle Gläubigen an ein immerwährendes Wachstum Lügen. Die Nachfrage nach neuen Wohnungen brach massiv ein, und mit ihr die ganze Bauwirtschaft. Bald schlossen die Vorfabrikationswerke, und der helvetische Plattenbau wurde zu einer abgeschlossenen Episode der neueren Schweizer Architekturgeschichte.
Fabian Furter ist selbständiger Historiker in Baden, Kanton Aargau. Er forscht zurzeit an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) über den Schweizer Massenwohnungsbau der Nachkriegsschweiz.
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