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Radioaktive Abfälle: Japan lernt aus Schweizer Fehlern

Zwei Personen in weissen Overalls tragen ein gelbes Fass mit dem Symbol der Radioaktivität
Egal, welcher Überzeugung man ist (hier eine Demonstration in Bern gegen Atomenergie), das Problem der sicheren Lagerung radioaktiver Abfälle betrifft alle. Keystone / Steffen Schmidt

Eine sichere und dauerhafte Lagerstätte für radioaktive Abfälle bauen: Vor dieser Herausforderung stehen die Kernenergie erzeugenden Länder seit Jahrzehnten. Japan, das heute des Atomunfalls von Fukushima gedenkt, blickt mit Interesse auf den Schweizer Ansatz.

Seit jener Dreifach-Katastrophe an einem Freitag im März sind acht Jahre vergangen. Ein Erdbeben und ein Tsunami verwüsteten die Nordostküste Japans, die Welle erfasste auch das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi und zerstörte dessen Kühlsysteme. In drei Reaktoren kam es deswegen zu einer Kernschmelze – zusammen mit Tschernobyl der schlimmste Atomunfall in der Geschichte.

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Die Katastrophe vom 11. März 2011 zeigte erneut, mit welchen Risiken die Atomenergie behaftet ist. Aber während in Japan immer noch die Folgen von Fukushima für die Bevölkerung und die Umwelt abgeschätzt werden, bleibt ein weiteres, viel älteres Problem ungelöst. Wo sollen die Tausenden von Tonnen radioaktive Abfälle, die jedes Jahr weltweit anfallen, eingelagert werden?

Für Pascale Jana Künzi ist die Antwort ganz einfach: unterirdisch. Künzi ist Expertin für die Entsorgung radioaktiver Abfälle beim Bundesamt für Energie (BFE) und Präsidentin des Forum on Stakeholder ConfidenceExterner Link (FSC) der Atomenergiebehörde der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

«Gegenwärtig werden die Abfälle oberirdisch gelagert. Das kann keine nachhaltige Lösung sein, weil wir nicht wissen, was in den nächsten Jahrhunderten geschehen wird. Allein im vergangenen Jahrhundert gab es zwei Weltkriege. Wir sind sicherer, wenn die Abfälle in tiefen geologischen Schichten gelagert werden», sagt sie gegenüber swissinfo.ch.

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Drei mögliche Tiefenlager

In der Schweiz liegt die Entsorgung radioaktiver Abfälle in der Verantwortung des Verursachers. Auf der einen Seite stehen die Betreiber von Kernkraftwerken, die im aargauischen Würenlingen ein Zwischenlager gebaut haben.

Andererseits ist die Eidgenossenschaft verantwortlich für die Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung. Per Gesetz muss «die Schweiz grundsätzlich die Entsorgung ihrer eigenen radioaktiven Abfälle übernehmen», heisst es vom BFE.

107 Jumbojets mit radioaktiven Abfällen

Die fünf Atomkraftwerke der Schweiz produzieren jährlich etwa 70 Tonnen Abfall aus abgebrannten Brennelementen. Unter Berücksichtigung einer Lebensdauer von 47 Jahren (bei Mühleberg, das Ende 2019 abgeschaltet wird) und 60 Jahren (für die anderen vier Kraftwerke), kommt man auf rund 4100 Tonnen (9400 Kubikmeter) hochradioaktiver Abfälle.

Dazu kommen 63’000 m3 schwach- oder mittelradioaktive Abfälle (z.B. aus dem Rückbau von Atomkraftwerken) und 20’000 m3 Abfälle aus den Bereichen Medizin, Industrie und Forschung. Um all diese Abfälle zu transportieren, wären 107 Jumbo-Jets (Boeing 747) nötig.

(Quelle: Nagra)

Die Suche nach definitiven Tiefenlagern in der Schweiz wurde 2008 mit der Schaffung des «Sachplans geologische Tiefenlager»Externer Link lanciert und hat vor kurzem die dritte und letzte Phase erreichtExterner Link.

Gegenwärtig gibt es drei mögliche Standorte, die alle im Norden des Landes liegen. Der Untergrund der Kantone Zürich, Aargau und Thurgau verfügt über geologische Bedingungen, die als ideal für eine sichere und dauerhafte Lagerung gelten. Das heisst, sie weisen undurchlässige Schichten aus Opalton in einer Tiefe von 600 Metern auf.

Grafik
Kai Reusser / swissinfo.ch

In den nächsten zehn Jahren würden nun das geologische Wissen vertieft und die Vor- und Nachteile der einzelnen Standorte bewertet, sagt Expertin Künzi. «Das Ziel ist, ein Endlager für mittelradioaktive und eines für hochradioaktive Abfälle zu bauen – oder ein einziges kombiniertes Endlager.» Derzeit ist die finnische Anlage in Olkiluoto das weltweit einzige Endlager für hochradioaktive Abfälle.

Der definitive Standort, vorgeschlagen durch die NagraExterner Link, das technische Kompetenzzentrum der Schweiz für die Entsorgung radioaktiver Abfälle in geologischen Tiefenlagern, wird von der Schweizer Regierung und dem Parlament genehmigt werden müssen. Das letzte Wort jedoch wird wohl das Stimmvolk haben, denn die Entscheidung des Parlaments – die eine Änderung des Kernenergiegesetzes mit sich bringt – unterliegt dem fakultativen ReferendumExterner Link.

Besonders die Einbeziehung der Bevölkerung in den Auswahlprozess ist für Länder wie Japan von Interesse. Im Gegensatz zur Schweiz steht dieses noch am Anfang des Verfahrens.

«Die Tiefenlagerung ist in jedem Land ein schwieriges Thema. Deshalb ist der Austausch wichtig.» 
Pascale Jana Künzi, Expertin für die Entsorgung radioaktiver Abfälle

Wenig Vertrauen in die Behörden

Ende November 2018 war Künzi nach Tokio an einen WorkshopExterner Link eingeladen worden, an dem Experten und Expertinnen aus acht Ländern teilnahmen, darunter aus den Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Frankreich.

«Japan will die Erfahrungen anderer Länder kennenlernen, was die Einbeziehung der Bevölkerung betrifft. Die Tiefenlagerung ist in jedem Land ein schwieriges Thema. Deshalb ist der Austausch wichtig», sagt Künzi.

Im Gegensatz zur Schweiz, die ihre Wahl einzig auf geologische Überlegungen stützt, habe sich Japan für ein Verfahren entschieden, bei dem die Gemeinden aufgefordert werden, sich auf Basis einer Landkarte, welche die am besten geeigneten Zonen angibtExterner Link, für vertiefte Analysen zu melden, erklärt die FSC-Präsidentin.

Das Problem ist allerdings, dass nach dem Reaktorunfall von Fukushima das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierung und die öffentlichen Institutionen stark zurückgegangen ist.

«Aus diesem Grund will die für die Entsorgung nuklearer Abfälle zuständige Behörde (Numo) auf verschiedene Weise das Interesse am Thema wecken. Besonders die jüngeren Generationen sollen sensibilisiert werden, etwa mit Websites für Kinder und einem InfobusExterner Link. Diese Erfahrung könnte auch der Schweiz und anderen Ländern zugutekommen», sagt Künzi.

Infobus mit zeltartigem Vorbau
Der Infobus der Behörde japanischen Numo soll das Bewusstsein junger Menschen für das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle schärfen. www.numo.or.jp

Die Fehler vom Wellenberg

Die Expertin des BFE wollte ihren japanischen Kollegen besonders über Fehler berichten, die zu vermeiden sind, wie dies in der Schweiz beim Projekt WellenbergExterner Link geschah. Diese Region in der Zentralschweiz war während zehn Jahren Gegenstand eines Streits zwischen dem Bund, dem Kanton Nidwalden und der Bevölkerung, die sich an der Urne wiederholt gegen die Lagerung radioaktiver Abfälle auf ihrem Territorium ausgesprochen hat.

«Der Fall Wellenberg zeigte, dass man nichts erreicht, wenn ein Kanton ein Vetorecht hat», so Künzi. «Niemand will ein Endlager in seiner Region haben. Aus diesem Grund ist das Veto gegen geologische Tiefenlager jetzt nur noch auf nationaler Ebene möglich.»

Das (symbolische) Nein der Jurassier

Die Stimmberechtigten des Kantons Jura sind gegen die Idee, dass in den benachbarten Kantonen Solothurn und Aargau Anlagen für die Lagerung radioaktiver Abfälle gebaut werden könnten.

Die Stimmberechtigten dieses Kantons können sich aufgrund eines speziellen kantonalen Gesetzes zu diesem Thema äussern – einzigartig in der Schweiz. Am 4. März 2018 lehnten sie mit 53,7% der Stimmen ab, dass die Bauzone «Jura Ost» von der Nagra berücksichtigt werden soll. Mit 73% Nein lehnten sie auch den Sektor «Jurasüdfuss» ab, der inzwischen von der Nagra verworfen wurde.

Ihr Widerstand wird jedoch keine konkreten Folgen haben, da die endgültige Entscheidung bei der Landesregierung liegt.

Eine ebenso wichtige Lehre aus dem Wellenberg-Projekt sei, dass bei Kommunikation, Kompetenzen und Verfahren «grösstmögliche Transparenz nötig» sei, sagt Künzi. «Es ist notwendig, die Phasen und die für das Verfahren Verantwortlichen klar zu definieren. Es ist auch wichtig, die gesamte Region einzubeziehen, nicht nur die direkt betroffenen Gemeinden.»

Die Schweiz und Japan haben unterschiedliche kulturelle Hintergründe, «aber ich denke, es gibt auch viele Gemeinsamkeiten», sagt Yuta Hikichi von der japanischen Agentur für natürliche Ressourcen, Energie und Atomenergie-Erzeugung gegenüber swissinfo.ch.

«Inspiriert durch das Schweizer Verfahren wollen wir ein Forum für den Dialog schaffen und die Meinungen in den verschiedenen Regionen sammeln. In jenen Regionen, die sich für die Entsorgung nuklearer Abfälle interessieren, organisieren wir Bürgerschulung mit Experten, Besuche von Kernanlagen und Kurse an Schulen und Universitäten.»

Den Bürgern das Wort

Auch wenn in der Schweiz die Bevölkerung in einer betroffenen Region keine Mittel mehr gegen die Realisierung eines Projekts in der Hand habe, sei es wichtig, dass sie die Möglichkeit erhalte, in das Projekt integriert zu werden, betont Künzi. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Einrichtung von RegionalkonferenzenExterner Link an den von der Nagra ausgewählten Orten für Tiefenlager.

Bei diesen Treffen können Delegierte von Gemeinden, Vertreter von Organisationen wie auch Bürgerinnen und Bürger Fragen stellen und Anträge formulieren. Zum Beispiel über die genaue Position des Zugangs zum Endlager auf der Erdoberfläche, über die wirtschaftliche Entwicklung der Region oder Sicherheitsfragen, sagt Hanspeter Lienhart, Präsident der Regionalkonferenz Nördlich LägernExterner Link.

Dieser Regionalkonferenz gehören 125 Personen an. «Es gibt Befürworter und Gegner der Atomkraft. Nicht alle sind für ein Tiefenlager in der Region, aber darum geht es in den Diskussionen nicht», sagt Lienhart. «Die direkt Betroffenen sind sich bewusst, dass für die von uns erzeugten Abfälle eine sichere Lösung gefunden werden muss. Für sie ist es wichtig, die Folgen eines Endlagers zu diskutieren und den Fortschritt der Arbeiten zu verfolgen.»

Die Diskussionen dürften noch für eine lange Zeit weitergeführt werden. Laut der Eidgenossenschaft soll das Endlager für die gefährlichsten Abfälle erst um das Jahr 2060 herum in Betrieb gehen.

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(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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