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«Auch Roma müssen Veränderungen mitmachen»

Musizierende Roma sind in Berns Strassen regelmässig anzutreffen. swissinfo.ch

Bettelnde oder musizierende Roma sind immer wieder in Berns Einkaufsstrassen anzutreffen, auch in der Weihnachtszeit. Nicht nur im Vorbeigehen, sondern direkt begegnet ihnen Lisette Steiner seit Jahren im offenen Haus "La Prairie".

«Die ersten Roma kamen vor ungefähr fünfzehn Jahren zu uns», erinnert sich Lisette Steiner, die seit sechzehn Jahren zum ehrenamtlichen, ökumenisch orientierten Team der «Prairie» gehört. «Seit dem Jahr 2000 konnten wir einen Anstieg beobachten.»

Die «Prairie» ist eine soziale Institution und als Verein organisiert. Sie finanziert sich über Spenden und Kollekten in Kirchen. Obdachlose, Studierende, Arbeitslose, Rentnerinnen und Rentner, Drogenabhängige und eben auch Roma erhalten hier für wenig Geld ein Mittagessen.

Wer nicht bezahlen kann, hilft in der Küche beim Kochen, rüstet Gemüse oder wäscht ab. Kaffee, Tee und Brot werden kostenlos angeboten.

Als die Roma anfingen, in die soziale Einrichtung zu kommen, hätten alle sehr ängstlich reagiert, sagt Steiner. «Jeder hatte ein Bild in sich, das nicht sehr freundlich war.» Dabei hätten nicht nur die Gäste ablehnend auf die Roma reagiert, sondern auch einzelne Teammitglieder.

Schwierige erste Begegnungen

Im Umgang mit den Roma sei zu Beginn die Sprache das grösste Problem gewesen. «Wir konnten uns nicht verständigen und deshalb auch die Hausregeln nicht erklären», erzählt Lisette Steiner.

«Die Roma glaubten, wir könnten ihnen alles Mögliche geben, was aber nicht der Fall war», sagt sie. «Wir geben zwar alte Schuhe und Kleider ab, wenn wir sehen, dass jemand durchnässt oder durchfroren ist.» Doch nicht immer hätten sie Kleidung zum Verschenken.

«Wenn sie aber sehen, dass wir ihnen etwas geben können, wollen sie noch mehr, denn zu Hause haben sie Kinder und Verwandte, für die sie auch etwas mitnehmen wollen», erzählt die ausgebildete Konzert- und Opernsängerin.

Die Erwartungen der Roma seien gross gewesen. Hinzu kam, dass sie in grossen Gruppen die «Prairie» aufsuchten: «Manchmal waren es ganze Familienclans, zehn, zwanzig Leute.»

Die anderen Gäste hätten sich immer mehr zurückgezogen. «Einige liessen ihren ganzen Lebensfrust an den Roma aus und äusserten sich sehr negativ über sie, obwohl sie ihnen persönlich gar nichts getan haben», sagt Steiner.

Keine «Extrawurst» für niemanden

An die Hausordnung müssten sich alle halten, genauso wie an die fixen Essenszeiten. «Zehn Minuten kann man zu spät kommen. Danach gibt es nur noch Kaffee und Brot», erklärt Lisette Steiner. Anfangs hätten die Roma dies überhaupt nicht befolgt.

Sie sei sich manchmal grausam vorgekommen und habe den Roma trotzdem zu Essen gegeben, auch wenn sie zu spät gekommen seien. «Bei den anderen Gästen ist das gar nicht gut angekommen. Einige versuchten, spezielle Extras für sich herauszunehmen.»

Doch nicht nur die «Prairie», sondern auch andere soziale Institutionen bekundeten Probleme mit oder wegen der Roma. Einige zogen sogar eine Schliessung in Betracht. «Die Devise von uns ist jedoch, ein offenes Haus für alle zu sein. Die Zustände waren aber unhaltbar.»

Deshalb hat das Team vor drei Jahren mit Hilfe von anderen Institutionen eine Tagung organisiert, an der über Roma diskutiert und informiert wurde. Seither habe sich die Situation, und damit der Umgang, entspannt.

Musiker und keine Banden

Die Roma, die in die «Prairie» kommen, sind hauptsächlich aus der Slowakei angereist, einzelne aus Ungarn oder Rumänien. «Die meisten ‹unserer› Roma sind Musiker», so Steiner. «Sie musizieren hier und versuchen damit ein wenig Geld zu verdienen und gehen nach kurzer Zeit wieder zurück.»

Aber sie seien nicht hier, um die Gäste auszufragen. «Schliesslich befragen wir die anderen Gäste auch nicht. Es geht uns nichts an», betont sie.

Sie lese zwar auch die Schlagzeilen über kriminelle und bandenmässig organisierte bettelnde Roma, doch glaube sie nicht, dass diese in ihre Institution kämen. «Unsere Gäste sind familienmässig unterwegs. Oft sind es drei Generationen, die sich gegenseitig helfen.» Organisierte Banden hingegen seien nicht «familiär» organisiert.

Die «familiäre» Organisation habe allerdings auch eine problematische Seite, nämlich dann, wenn Kinder ebenfalls musizieren oder Geld sammeln gingen. «Für die Roma ist es normal, dass die Kinder mithelfen. In der Schweiz ist das allerdings Kinderarbeit», sagt Steiner.

Bildung und nicht Arbeit für die Kinder

«Heute sind fast keine Kinder mehr mit dabei. Vor zwei, drei Jahren waren es noch viel mehr», erinnert sie sich. Auch merke sie, dass sich die Einstellung diesbezüglich ändere. «Natürlich haben die Roma viele Pogrome erlebt, wodurch sich auch ihre moralische Einstellung geändert hat, denn eigentlich haben sie eine hohe Moral», sagt Steiner.

«Trotzdem müssen sie gewisse Veränderungen mitmachen», ist sie überzeugt. Bei den jüngeren Generationen merke man das bereits, weil sie weniger Kinder hätten als die älteren.

«Und langsam aber sicher haben die Roma auch gemerkt, dass Bildung wichtig ist. Früher war es für die Alten klar, dass niemand gescheiter als der Clan-Chef sein darf», sagt die Walliserin. Deshalb hätten die Enkelkinder auch nicht studieren dürfen.

Heute sei das anders: «Als einmal ein Roma-Kind bei uns in der ‹Prairie› am Tisch sass und etwas schrieb, zeigten die Eltern voller Stolz auf ihr Kind. Es gibt schon eine Veränderung, aber es ist noch ein langer Weg.»

Sandra Grizelj, swissinfo.ch

Seit März 2009 läuft in Bern die Aktion «Agora», die sich gegen organisierte Bettelei richtet. Die Fremdenpolizei beobachtet und kontrolliert die Bettel-Szene intensiv.

Laut Alexander Ott, Leiter von der Fremdenpolizei Bern sagt, sind auch bettelnde Roma in organisierten Banden unterwegs. Diese gingen besonders dreist vor, indem sie bewusst Behinderte und Kinder einsetzten.

Dabei würden sie besonders dreist vorgehen, weil bewusst Behinderte und Kinder eingesetzt würden.

Deshalb fordert die Fremdenpolizei die Bevölkerung auf, den Bettlern nichts mehr zu geben, weil sonst ein Netz von kriminellen Machenschaften unterstützt werde.

Roma, Rroma [Rom (männlich), Romni (weiblich)] ist der Oberbegriff für ursprünglich aus Indien stammende ethnisch miteinander verwandte Bevölkerungsgruppen, die sich vom 14. Jahrhundert an in mehreren Schüben über Vorderasien nach Nordafrika und Europa verbreiteten.

Mittlerweile leben die Roma als ethnisch-kulturelle Minderheit auf allen Kontinenten. Die grosse Mehrheit lebt in Europa, vor allem in den sudosteuropäischen und einigen mitteleuropäischen Staaten sowie in Spanien und Frankreich. Im deutschsprachigen Raum werden Roma oft als «Sinti und Roma» bezeichnet.

1971 legte der erste Weltkongress der internationalen Bürgerrechtsbewegung der Roma die Bezeichnung «Roma» als Gesamtkategorie für die unterschiedlichen Teilgruppen offiziell fest.

Ihre gemeinsame Sprache heisst Romani/Romanes. Sie besteht aus einer Vielzahl von Dialekten.
Die Roma wurden in ihrer rund 700-jährigen Geschichte in Europa seit Beginn des 16. Jh. diskriminiert und verfolgt. Im Nationalsozialismus wurden Hunderttausende Opfer eines Völkermords, ähnlich wie die europäischen Juden.

Auch in der Gegenwart werden Roma verfolgt, so in den letzten 20 Jahren in einigen südosteuropäischen Ländern.

Roma in Europa befinden sich heute oft im Visier rechtspopulistischer Politiker.

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