Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Auf der Suche nach prähistorischen Eismännern

Fundstelle: Der Gletscher Schnidejoch im Kanton Bern. NaturPanorama.ch

Wenn Sie einen Schlüsselbund oder eine Brieftasche finden, dann bringen Sie als guter Bürger Ihren Fund aufs Fundbüro. Was aber tun Sie, wenn Sie in den Schweizer Alpen eine 5000 Jahre alte Lederhandtasche finden?

Leandra Naef hat die Antwort. Die junge Archäologin ist der Kopf hinter einem neuen Projekt namens «kAltes Eis». Ihr Ziel ist es, perfekt erhaltene Fundstücke im ewigen Eis der Bündner Alpenwelt zu finden.

Wenn im Sommer die Gletscher schmelzen, kommen alte Flaschen, Dosen und andere Dinge, die im Laufe der Jahre weggeworfen wurden, zum Vorschein. Zuweilen sind es auch alte Holz- oder Kleidungsstücke, die vor Jahrtausenden entsorgt wurden.

Ein Hinweis an die Alpinisten: Da die Archäologen nicht immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein können, lohnt es sich, die Augen offen zu halten für antike Relikte.

Da die Gletscher infolge des Klimawandels immer mehr schmelzen, wird die Jagd nach Fundgegenständen immer wichtiger, denn sie könnten, kurz nachdem sie an die Oberfläche geschwemmt wurden, zerstört werden oder verloren gehen. Das trifft insbesondere für Gegenstände aus organischen Materialien wie Holz und Kleidung zu.

Dieser Schuh wurde im Eis zwischen den Berner und den Walliser Alpen gefunden. Keystone/Archaeologischer Dienst Kanton Bern

Ötzi und andere Funde

«Für uns Archäologen ist das natürlich ein absolutes El Dorado», erklärt Naef, » denn Eis kann auch organische Objekte konservieren.» Sie startete ihr Projekt nach ihren Studien an der Universität Zürich.

Dieses wird vom Institut für Kulturforschung des Kantons Graubünden betrieben. Ziel ist es, die interessantesten Eis-Funde im Kanton zu identifizieren und sie dem archäologischen Dienst zur Überwachung und Betreuung weiter zu leiten.

Vor rund einem Vierteljahrhundert fanden deutsche Wanderer im Südtirol die 5000 Jahre alte, mumifizierte Leiche von Ötzi. Heute gebe es in den Alpen noch viel zu erkunden, sagt Naef.

Eine der grössten Entdeckungen in den letzten Jahren war ein Pfeilköcher aus Birkenrinde und Leder-«Leggings» aus der Zeit von etwa 3000 vor Christus, die von Wanderern auf dem Gletscher Schnidejoch im Kanton Bern gefunden wurden.

Woher kommen die Ziegen?

Interessanterweise unterscheiden sich Objekte, die in Eis-Stücken gefunden wurden, je nach Fundregion. In den Alpen beispielsweise können die Objekte Händlern, die über die Pässe kamen, zugewiesen werden.

In Nordamerika und Norwegen haben die Funde in der Regel einen Bezug zur Jagd, während sie in Südamerika mit religiösen Aktivitäten in Verbindung gebracht werden können. Die Funde füllen Wissenslücken und beantworten zum Beispiel die Frage, wie früh sich die Leute gewagt haben, die Alpen zu überqueren. So hat sich herausgestellt, dass Ötzi einen Bezug zu Sardinien gehabt hatte.

Die Schnidejoch-Funde gehören zusammen mit Ötzis Bekleidung zu den drei ältesten Lederfunden aus Europa. Dank des Eises und bis in ihre DNA-Struktur hinein sind sie gut erhaltenen.

DNA-Analysen haben ergeben, dass die Schnidejoch-«Leggings» aus einem Ziegenleder sind, von dem man angenommen hatte, dass die Ziegenrasse lediglich in Ost-Asien heimisch gewesen sei. «Wenn wir etwas tun wollen, dann müssen wir es jetzt tun, sonst wird es definitiv zu spät sein», sagt Naef und hofft, dass sie diesen Sommer einige Fundstücke entdecken wird.

Archäologischer Dienst Kt. Bern

Gletscher sind nicht mehr ewig

«Es war mir schnell klar, dass Graubünden eine gute Gegend mit vielen vielversprechenden Funden ist und dass wir mit Bezug auf die Zeit keinen grossen Spielraum mehr haben», sagt Naef gegenüber swissinfo.ch.

In der Tat ist die Zeit ist nicht auf der Seite der Archäologen, denn die Gletscher auf der ganzen Welt schwinden, und die Schweiz ist keine Ausnahme.

«In den letzten 30 bis 40 Jahren, sind die warmen Temperaturen im Sommer und im Winter weitgehend auf den anthropogenen Klimawandel zurückzuführen», sagt Martin Grosjean, Geschäftsführer des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung an der Universität Bern gegenüber swissinfo.ch. «Es ist kein Zufall, dass es in den letzten 10 bis 20 Jahren ausserordentlich warme Sommer hatte. Das hat dazu geführt, dass die Gletscher extrem schnell schmelzen. In 50 Jahren werden die Gletscher verschwunden sein, das wissen wir heute.»

Naef konzentriert sich mit ihrem Projekt auf Eis-Stellen, die besonders stabil sind. Dort sind die Chancen auf perfekt erhaltene Objekte grösser. Mit Hilfe eines computergestützten Prognosemodells war es ihr möglich, archäologische Fundstellen in den Alpen ausfindig zu machen.

Sie hat die Anzahl der möglichen Standorte kontinuierlich um rund 300 verringert, wobei sie den Schwerpunkt auf die kleinen Alpenpässe im Kanton legte, die mindestens 2500 Meter über dem Meeresspiegel liegen.

Danach analysierte sie jene 300 Standorte, an denen sie Funde vermutete. So sind beispielsweise in der Region eines viel begangenen Passes, der zwei einsame Täler verbindet, mehr Funde zu erwarten, als auf einem Pass, der kaum frequentiert wurde.

Insgesamt hat Naef 40 Standorte identifiziert, von denen sie glaubt, am ehesten zu Funden zu kommen. Sie will diese in den nächsten zwei Sommer weitgehend untersuchen. Für die restlichen 260 Standorte zählt sie auf Wanderer, die vielleicht etwas Interessantes finden und sie darüber informieren werden.

swissinfo.ch

Anlaufstelle Hüttenwarte

Eine der wichtigsten Anlaufstellen für Wanderer sind die Hüttenwarte des Schweizer Alpen-Clubs. «Wenn man den Leuten sagt, dass es wichtig ist, dann werden sie die Bemühungen Archäologen eher unterstützen und sie über Funde informieren», sagt Reto Barblan, der Hüttenwart der die Kesch-Hütte.

Naef befürchtet nicht, dass Wanderer die Fundstücke mit nach Hause nehmen werden, zumal die Fundstücke aus Holz und nicht aus Gold bestehen. «Es handelt sich um Objekte, die sehr wertvoll sind für die Wissenschaft, aber praktisch keinen Wert haben für Private.»

Wer im Sommer in den Alpen auf ein Objekt stösst – und sei es noch so klein – das aus einem Gletscher oder einer Eisplatte ausgeapert ist, sollte diesen Fund in einem ersten Schritt so ausführlich als möglich in unveränderter Fundlage dokumentieren (Foto mit Masstab, z.B. Objektivdeckel, Wanderstock o.ä.; GPS-Position; Skizze etc.).

Ein Eisfund sollte nur dann geborgen werden, wenn er bereits vollständig ausgeschmolzen ist, sich unbeschadet transportieren lässt und unmittelbar bedroht (Lage an vielbegangenem Weg, Geröllverschüttung, bevorstehender Schneefall etc.) oder für Fachleute nur sehr schwer erreichbar ist

Der Fund sollte bis zur Übergabe an die zuständige Stelle wenn möglich kühl gelagert werden (Kühlschrank/Eisschrank).

In keinem Fall sollte ohne professionelle Anleitung und Ausrüstung versucht werden, ein Objekt aus dem Eis auszuschmelzen oder gar mit Hilfe eines Pickels aus dem Eis zu lösen.

Quelle: kAltes Eis

(Übersetzung aus dem Englischen: Andreas Keiser)

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft