Auf nach Shanghai
Die Wohnung ist gekündigt, das Auto verkauft, der Abschieds-Marathon in vollem Gang. Am 25. März bricht Patrick Milo seine Zelte in Zürich ab und wagt einen Neustart in der 16-Millionenstadt Shanghai. Für ihn ist es das grösste Abenteuer seines Lebens.
«Wenn ich mir chinesische Zeitungen anschaue, frage ich mich: Werde ich das irgendwann verstehen? Man muss 2000 bis 3000 chinesische Schriftzeichen kennen, um zu erfahren, ob es in einem Zeitungsartikel um Kochen oder Krieg geht», sagt Milo im Gespräch mit swissinfo.ch kurz vor seiner Abreise nach China.
Der schweizerisch-italienische Doppelbürger hat seine Stelle bei Oerlikon Solar an den Nagel gehängt und zieht zu seiner spanischen Freundin nach Shanghai, die dort für einen grossen Textilkonzern tätig ist.
Zeit für Neustart
Asien ist für ihn nicht Neuland: Als Kommunikations-Verantwortlicher von Oerlikon Solar war Milo häufig in dieser Region unterwegs. China kennt er seit fünf Jahren. Zudem war er schon immer ein Asien-Fan und hat Thailand, Indonesien sowie Bali viele Male bereist.
Vor ziemlich genau 20 Jahren hatte der bald 40-jährige Zürcher seine kaufmännische Lehre bei der damaligen Swissair abgeschlossen und anschliessend ohne Unterbruch gearbeitet, vor allem auf dem Gebiet Marketing/Kommunikation.
Nach diesem «Highspeed-Job» plant er jetzt als erstes eine sechsmonatige Auszeit, «auch wenn meine Freundin und meine Freunde bereits wetten, dass ich das nie durchziehen werde».
Sein Ziel ist es, zur Ruhe zu kommen und etwas ganz anderes zu machen, nämlich Chinesisch lernen. So hat er sich an der JBC-Schule in Shanghai, die zur Jiao Tong University gehört, für einen Intensivkurs in Business-Mandarin eingeschrieben. Sechs Lektionen pro Tag, fünf Mal die Woche, dazu kommen verschiedene Freifächer.
Alles offen
Der «Vollblut-Kommunikationsmensch», wie er sich selber bezeichnet, möchte so schnell wie möglich die neue Sprache sprechen können. «Wenn ich das jetzt nicht anpacke, geht es mir wie meiner spanischen Freundin. Sie kann kein Wort Chinesisch.»
Als Schweizer habe er jedoch die besseren Karten. «Wenn man ‹Züri-Gschnätzlets› sagen kann, ist es einfacher. Chinesisch kennt dieselben Zisch- und Umlaute wie wir.»
75 Kilogramm Gepäck nimmt der Auswanderungswillige mit in sein neues Leben, vor allem Kleider, seine «Computerwelt» und ein paar Bücher, die mit China zu tun haben, mit der Geschichte des Landes, den Umgangsformen und mit Business. Die Möbel stellt er ein, ebenso seine Vespa, von der er sich nicht endgültig trennen mag.
Wie es nach der sechsmonatigen Auszeit beruflich weitergeht, weiss Patrick Milo zur Zeit nicht. Während seiner Karriere hat er Netzwerke aufgebaut und Freunde gewonnen, Schweizer und Chinesen. Er hat auch bereits diverse mehr oder weniger konkrete Optionen auf Lager und gibt sich optimistisch.
«In China hat das Zeitalter des Marketings begonnen. Es geht nicht mehr nur um Export, sondern dank steigender Kaufkraft auch um den Binnenmarkt. Da gibt es viel Potenzial, auch für Schweizer Firmen», sagt Milo.
Das Positive sehen
Während seiner Auswanderungs-Vorbereitungen hat er sich ausführlich über China informiert. Er kennt die viel kritisierte Menschenrechtslage im Riesenreich. Dennoch masst er sich nicht an, zu urteilen. «Ich kenne erst Shanghai und Beijing ein bisschen.» Auf dem Land sei er noch nie gewesen, das wolle er bald nachholen.
«Zudem kann ich nicht alles lösen. Jeder muss für sich die Wahrheit finden. Es gibt in China Nebengeräusche, die nicht unserem demokratischen Verständnis entsprechen. Aber an dem will ich mich jetzt nicht aufreiben, sondern versuche, das Positive zu sehen.»
Und da gebe es Einiges. Milo ist beeindruckt, dass China es geschafft hat, innerhalb von 15 Jahren 250 Millionen Menschen aus der Armut in den Mittelstand zu heben.
Schweizer Werte leben
Der Doppelbürger reist übrigens bewusst mit dem roten Pass. «Ich fühle mich klar als Schweizer und verkörpere gerne Schweizer Werte wie Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und sauberes Geschäften.»
So sei er immer gut gefahren. «Zudem lache ich gern. Und Lachen ist international.»
In China wird sich Milo bei der Schweizer Botschaft registrieren und sich in der «Swiss Community» integrieren. «So fühle ich mich begleitet.»
Der Hektik entfliehen
Den Neustart in Shanghai geht der künftige Auslandschweizer nicht mit Angst, aber grossem Respekt an. In einer Stadt, die ihm beim ersten Mal wie ein «Spielzimmer eines verwöhnten Kindes» vorgekommen sei, als er zum ersten Mal dort war. «Weil es dort alles gibt.»
Vermissen wird er – nebst seiner Familie, den Freunden und seiner Leibspeise ‹Zürichgeschnetzeltes› – wohl den blauen Himmel, der wegen starker Umweltverschmutzung selten zu sehen sei in Shanghai.
«Zum Glück gibt es viele wunderschöne Parkanlagen. Es sind die Lungen der Stadt. Dort herrscht eine andere Geschwindigkeit.»
China (inkl. Hong Kong) ist seit 2002 der wichtigste Handelspartner der Schweiz in Asien.
China ist hinter der EU und den USA der drittwichtigste Zulieferer.
Für Schweizer Produkte ist das Reich der Mitte hinter der EU, den USA und Japan der viertwichtigste Absatzmarkt.
In China sind rund 300 Schweizer Firmen mit etwa 700 Niederlassungen tätig.
Zudem wird das riesige Land mit seinen mehr als 1,3 Mrd. Einwohnerinnen und Einwohnern für den schweizerischen Tourismus immer wichtiger.
2010 lebten 3503 Schweizerinnen und Schweizer in China.
Davon 687 in Beijing und 880 in Shanghai.
1296 sind Doppelbürger.
2466 Schweizer Staatsangehörige in China sind stimmberechtigt.
1215 haben sich für Abstimmungen und Wahlen registrieren lassen, das sind knapp 50%.
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