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Ausländische Bettelei in der Schweiz

In Genf wurden gegen 200 Roma 10'000 Bussen wegen Bettelei ausgesprochen. Keystone

In vielen Schweizer Städten tritt ein Bettelverbot in Kraft. Die Verbote wurden von den Städten mit Blick auf die Roma erlassen. Damit knüpft die Schweiz - wie andere Länder in Europa - wieder an althergebrachte Massnahmen und Vorurteile an.

In Genf ist der erste Prozess wegen angefochtener Bussen gegen bettelnde Roma eröffnet worden. Dies in Folge des Bettelverbotes, das 2008 in der Stadt eingeführt wurde.

Seitdem wurden 10’000 Bussen ausgesprochen, an 200 Roma, die in Rumänien niedergelassen sind.

In dieser Zeit hat die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) in Lausanne eine Initiative «Stopp der Berufsbettelei» eingereicht. Sie wurde von 11’500 Personen unterzeichnet. Die Stimmberechtigten von Lausanne werden somit über diesen Gesetzetsvorschlag abstimmen. Die Massnahme ist bereits in Kraft in Genf, Freiburg, Neuenburg, Basel, Zürich und Luzern. Sie zielt auf die Roma ab.

Wie der Historiker Jean-Pierre Tabin sagt, taucht ein Bettelverbot für ausländische Personen in der Schweiz seit dem 16. Jahrhundert immer wieder auf.

Schon damals wurden in den Städten zahlreiche Massnahmen ergriffen, die vor allem ausländische Bettler ins Visier nahmen. Die Städte wurden demografisch, politisch und wirtschaftlich immer wichtiger, und gegen die ebenfalls zunehmende Armut wurden neue Mittel und Wege gesucht.

Wir und die Andern

Jean-Pierre Tabin ruft einen der Gründungsakte der Schweiz aus dieser Epoche in Erinnerung: «Im Jahr 1551 hat die eigenössische Tagsatzung entschieden, dass jede Pfarrei ihre Armen unterhalten muss. Die anderen, die Ausländer, sollten vertrieben werden.» Diese Unterscheidung hat sich mehr oder weniger gehalten, trotz der sozialen Reformen Ende des 19. Jahrhunderts.

Es ist die Umgestaltung des politischen Raums (die Öffnung der Grenzen gegenüber den neuen Ländern der Europäischen Union wie etwa Rumänien), die Massnahmen wieder aufleben lässt, die genauso althergebracht sind wie deren Rechtfertigungen.

Die Argumente der Initianten aus Lausanne weichen nicht von dieser Regel ab: «Diese Art von Bettelei hat nichts gemeinsam mit der traditionellen Bettelei. Das Ziel ist, das Gefühl des Mitleids auszunutzen. Es geht sogar noch weiter: Manche simulieren Behinderungen, um das Mitleid anzuregen. Aus diesen Gründen brauchen wir ein Verbot für Berufsbettler.»

Mathieu Blanc, Präsident des Initiativkommitees, fügt gegenüber swissinfo.ch an: «Die Bettelei existiert seit mehreren Jahren in Lausanne. Aber seit Kurzem haben sich die Bettler aggressiv und manchmal beleidigend verhalten. Das ist es, was für die Leute Probleme schafft. Vor allem die älteren Leute verunsichert es.»

Jean-Pierre Tabin, der mit René Cluzel auf Mandatsbasis für den waadtländischen Jugendschutz eine Untersuchung über bettelnde Kinder durchführt, erinnert an die Ursprünge dieser Argumente.

«Im Mittelalter stand die Christenheit vor dem Dilemma in Bezug auf die Bettelei. Denn die Armut war ein christliches Ideal. Wie konnte man die guten von den schlechten Armen unterscheiden, jene, die aus Gottesfurcht arm geworden waren und jene, die man der Faulheit beschuldigte. Verschiedene Kriterien wurden herangezogen, um sie zu unterscheiden. Der akzeptierte Bettler musste aus dem Ort stammen, invalid, alt, bescheiden und nicht fordernd sein.»

Das Argumentarium habe sich nicht geändert, befand Tabin. «Wir sind immer noch daran, die guten von den schlechten Bettlern zu unterscheiden, die unseren und die anderen, denen wir immer noch vorwerfen, sich zu bereichern und etwas vorzutäuschen.»

Versteckte Diskriminierung

Seit 60 Jahren fordern die Schweiz und Europa laut und deutlich den Schutz der Menschenrechte, als einer ihrer Grundwerte.

Nun wird aber der Respekt vor den Menschenrechten durch diese Massnahmen gegen die Roma laut Experten zumindest tangiert: Der Jurist Daniel Möckli von der Universität Zürich hat gezeigt, inwiefern das Bettelverbot im Widerspruch zur Bundesverfassung steht. Diese Studie wurde im Oktober 2010 publiziert.

Laut dem Juristen kann nur die aggressive Bettelei verboten werden. Eine solche Massnahme dürfe aber nur temporär sein und in Zonen, die genau definiert würden. Diese Prinzipien stünden in der Europäischen Menschenrechtskonvention in Artikel 8 und 18, welche die Schweiz unterschrieben habe.

Diese Einschätzung wird vom Bundesgericht nicht geteilt. Bei der Beurteilung einer Klage gegen das Bettelverbot in Genf hat der Gerichtshof die gesetzliche Grundlage als genügend erachtet.

Roma ist der Oberbegriff für eine Reihe ethnisch miteinander verwandter, ursprünglich aus dem indischen Subkontinent stammender Bevölkerungsgruppen, die ab dem 14. Jahrhundert in mehreren Migrationsschüben über Vorderasien nach Nordafrika und Europa sowie in der Moderne auch nach Amerika und Australien gelangten.

Roma leben als ethnisch-kulturelle Minderheit auf allen Kontinenten, in ihrer grossen Mehrheit jedoch in Europa und dort vor allem in den südosteuropäischen und einigen mitteleuropäischen Staaten, sowie in Spanien und Frankreich.

Die in eine Vielfalt von Dialekten ausgeformte gemeinsame Sprache der Roma ist das Romani/Romanes.

Sehr viele Angehörige der Minderheit werden sowohl aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als auch aufgrund ihrer sozialen Situation marginalisiert und stehen so im Schnittpunkt zweier Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung.

(Quelle: Wikipedia)

(Übertragung aus dem Französischen: Eveline Kobler)

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