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Warum sich eine Schweizer Familie in Deutschland einbürgern liess

Ein lachendes Ehepaar
Petra und Martin Leuenberger Stingelin. swissinfo.ch

Kaum waren die Stingelins deutsche Staatsbürger, meldeten sie sich als Wahlhelfer für die Europawahl. Und dennoch sind zugleich überzeugte Schweizer.​​​​​​​

Schweizer mit Doppelpass

Die Schweiz machte den Weg für Doppelbürger bereits 1992 frei. Deutschland folgte mit Einschränkungen erst 2007. 2017 wurden 328 Eidgenossen (auch) deutsche Staatsbürger, 2018 waren es 295. Insgesamt besitzen 57’000 der  88’600 in Deutschland lebenden Schweizer einen Doppelpass. Darunter sind viele, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit wegen eines deutschen Elternteils automatisch erhalten oder in Deutschland geboren wurden.

Quelle: DestatisExterner Link, eda

«Warum wollt ihr denn den deutschen Pass, wo ihr doch den Schweizer habt?» Diese Frage stellten nicht nur Freunde und Familie in der Heimat. «Auch Deutsche haben sich darüber gewundert», sagt Petra Leuenberger Stingelin. Doch für sie, ihren Mann Martin Stingelin und Sohn Gilles wuchs nach fast zwölf Jahren im nördlichen Ruhrgebiet der Wunsch, sich in der neuen Heimat Lünen auch politisch einzubringen.

Die Stingelins kamen 2007 nach Nordrhein-Westfalen, weil das Angebot einer Professur an der Universität Dortmund für den Germanisten Martin Stingelin zu verlockend war. «Unbefristete Stellen sind in meinem Forschungsgebiet rar gesät. Die Chance musste ich einfach ergreifen», sagt er. Seine Frau ist Linguistin, er Literaturwissenschaftler. Das Paar hatte sich am Deutschen Seminar der Basler Hochschule kennengelernt. Anfangs pendelte er zwischen Basel und Dortmund, dann entschieden sie nach einigen Monaten, dem Leben im Ruhrgebiet gemeinsam eine Chance zu geben.   

«Es war ein positiver Kulturschock», erinnert sich Martin Stingelin. Heimweh habe er in all den Jahren nicht ein einziges Mal verspürt. Von Beginn an gefiel beiden die unkomplizierte und offene Art der Menschen und die grosse Diversität der Region. Das deutsche Kohlerevier ist ein kultureller Schmelztiegel. Hier schauen die Nachbarn nicht misstrauisch hinter der Gardine auf Neuankömmlinge, sondern heissen sie willkommen. Schliesslich war man traditionell «Unter Tage» im Schacht aufeinander angewiesen, egal woher man stammte.

Kohlekraftwerk
Das Trianel-Kraftwerk in Lünen. Keystone / Marius Becker

Wunsch nach politischer Teilhabe

Ihr kleiner Sohn Gilles, so erinnern sich die Eltern, sei ohne Scheu den Nachbarskindern beim Spielen in deren Zuhause gefolgt. «Da haben uns die Eltern gleich mit hinein gebeten.» Schon bald schnappte der Junge den unverkennbaren Ruhrgebiets-Dialekt auf, beendete seine Sätze mit «ne?» statt  «oder?».  In der Familie, darauf legen die Eltern wert, wird jedoch weiter Schweizerdeutsch gesprochen.

Sie lebten sich rasch ein. Was ihnen fehlte, war die politische Teilhabe. «Ich wollte hier vor Ort mehr mitbestimmen», sagt Petra Leuenberger Stingelin. Als nicht EU-Bürgerin blieb ihr dies auch bei Wahlen auf kommunaler Ebene verwehrt. Nach 12 Jahren Deutschland fanden das Ehepaar es 2018 daher an der Zeit, einen deutschen Pass zu beantragen. Dass Gilles zu dem Zeitpunkt noch keine 16 Jahre alt war, erleichterte seine Einbürgerung. Auch dies war ein Grund, nicht länger zu warten.

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Und doch gaben nicht in erster Linie pragmatische Gründe den Ausschlag für die Entscheidung. Die Stingelins sind überzeugte Europäer, aufgewachsen im Dreiländereck Deutschland, Schweiz und Frankreich. Für die beiden präsentiert die Europäische Union weit mehr als einen erweiterten Raum der Möglichkeiten für sich und ihren Sohn. «Ich bin begeisterte EU-Bürgerin», bekennt Petra Leuenberger Stingelin. Je länger sie in der EU, in Deutschland lebe, desto stärker fühle sie sich dem europäischen Gedanken verbunden.

Zu wenig Schweizer für einen Verein

Zugleich ändere der zusätzliche deutsche Pass nichts an ihrer engen Verbindung zur Schweiz. Beide halten sich über die Geschehnisse in ihrer Heimat auf dem Laufenden und nehmen ihr Stimmrecht als Auslandschweizer im Kanton Basel-Land regelmässig wahr. In jedem Sommer fahren die Drei zum Wandern ins Tessin, häufig besuchen sie ihre Familien in der Schweiz. Wenn es in Lünen einen Verein der Auslandschweizer gäbe, Petra Leuenberger Stingelin wäre dabei. Doch dies ist nicht Berlin oder Dresden, Städte in denen man an jeder Ecke Eidgenossen trifft. Insgesamt, so schätzt sie, leben in der 85’000 Einwohner-Stadt Lünen kaum eine Handvoll Schweizer. Zu wenig, um einen Club zu gründen.

Der Doppelpass dient auch der Absicherung des eigenen Lebensentwurfs. Wer weiss schon, was die politische Zukunft bringt, ob eine Eskalation der politischen Differenzen zwischen Brüssel und Bern nicht eines Tages ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland beeinflusst? «Unser britischer Nachbar ist rasch vor dem Brexit noch Deutscher geworden», erzählt Petra Leuenberger Stingelin.

Er feierte dann gemeinsam mit ihnen im Februar im Lüner Rathaus seine deutsche Staatsbürgerschaft. Der Weg dorthin war für die Stingelins ein Lehrstück über die deutsche Bürokratie. Immerhin blieb ihnen wegen akademischen Hintergrundes als Germanisten der Sprachtest erspart. Im Einbürgerungstest mussten die beiden dann jede Menge Fragen zur deutschen Geschichte beantworten. Sehr viele bezogen sich auf das Dritte Reich und die DDR, erinnert sich Petra Leuenberger Stingelin. Rund sieben Monate später brachte dann die Post die Aufforderung, die Einbürgerungsurkunde abzuholen. Auf dem Foto der Einbürgerungsfeier strahlen sie auf einer Treppe inmitten einer multikulturellen Gruppe von Neubürgern aus der ganzen Welt. Sie waren die einzigen Eidgenossen.

Das Ehepaar erinnert sich gerne an den Abend. Emotional, fröhlich und festlich zugleich sei es zugegangen. Dass die Beamten aus der Einbürgerungsbehörde, die ihnen zuvor mit ernsten Gesichtern in ihren Amtsstuben gegenübergesessen hatten, nun lachend und entspannt Getränke servierten und sie beglückwünschten, hat sie beeindruckt. «Die haben sich spürbar mit uns allen gefreut», ist Martin Stingelin überzeugt. Noch auf der Feier bot man den Neubürgern an, sich doch als Wahlhelfer in die anstehende Europawahl einzubringen. Und so nahmen die Stingelins am 26. Mai nicht nur an ihrer ersten Abstimmung in Deutschland teil, sondern halfen im 14. Stock des Lüner Rathauses bei der Auswertung der 7000 Umschläge mit Briefwahlstimmzetteln. «Das war eine schöne Form der Partizipation», sagen beide.  

Einen deutschen Reisepass haben die beiden noch nicht beantragt, wohl aber deutsche Personalausweise. Den, das haben sie für die Einwanderungsprüfung gelernt, muss jede und jeder Deutsche über 16 Jahre ständig bei sich führen. Und wenn im Ausland jemand nach ihrer Nationalität fragt, können sie fortan selbst entscheiden, wie sie antworten. Petra Leuenberger Stingelin hält es da ganz pragmatisch: «Je nachdem, wie es gerade passt.» Beim Fussball ist die Wahl allerdings eindeutig. «Mein Herz schlägt weiter für die Nati», sagt Martin Stingelin.

Einbürgerung in Deutschland

Wer seit acht Jahren dauerhaft und rechtmässig in Deutschland lebt, hat das Recht, sich einbürgern zu lassen. Voraussetzung ist, dass sich die Antragssteller zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des deutschen Grundgesetzes bekennen und den Lebensunterhalt für sich und die unterhaltsberechtigten Angehörigen eigenständig sichern können. Sie müssen über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, dürfen nicht wegen einer Straftat verurteilt sein und müssen den sogenannten Einbürgerungstest bestehen, der Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland abfragt. Dieser entfällt für Kinder unter 16 Jahre. Grundsätzlich verlangt die Bundesrepublik die Aufgabe der alten Staatsbürgerschaft. Ausnahmen gelten für EU-Bürger und Schweizer und aus den unterschiedlichsten Gründen auch für viele Flüchtlinge. 

Quelle: Bundesministerium des Innern, für Bau und HeimatExterner Link

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