Krissy Suire: «Als ich nach Kosovo kam, war das wie eine zweite Geburt»
Die Westschweizer Graffiti-Künstlerin Krissy Suire, bekannt unter dem Pseudonym "Stern", hat sich im Kosovo ab dem ersten Moment zuhause gefühlt. Das Auswandern bereut sie auch nach fast fünf Jahren nicht.
Stellen Sie sich vor, Sie reisen ohne grosse Erwartungen in ein Land – und kaum gelandet, fühlen Sie sich zuhause. So erlebte es Krystel «Krissy» Suire im Kosovo.
Das erste Mal ins Land reiste sie auf Einladung eines Streetart-Festivals. «Es war halb 9, der Flughafen leer, ich hab mich gefragt: ‹Was soll ich hier mit meiner Einhornmütze auf dem Kopf?'» Sie erzählt von den Vorurteilen, mit denen sie sich auf die Reise machte: Sie erwartete ein konservatives muslimisches Land, vom Krieg gezeichnet und entsprechend düster.
Doch bereits in der Ankunftshalle haben sich diese Vorurteile aufgelöst. «Oh Stern, du bist es!», hörte sie einen lauten Ruf. Stern ist Krissys Pseudonym als Künstlerin.
Zu Tränen gerührt erzählt sie: «Der Festivalorganisator hat seine Arme weit geöffnet und schrie regelrecht: Willkommen in Kosovo! Er nahm mich in die Arme. Sofort fühlte ich mich zuhause.»
Offene Menschen, lebendiges Nachtleben
Am Streetart-Festival kam sie sich dann doof vor in ihren langärmligen Shirts und Hosen in der sommerlichen Hitze. «Ich wollte keine Gefühle verletzen und dachte in einem muslimischen Land sei das angebracht, aber hinter mir war eine Menge Frauen in Shorts und kurzen Tops, während Hiphop aus den Boxen dröhnte.»
Anstelle einer bedrückten, konservativen Gesellschaft hat Krissy in Pristina offene Menschen und ein lebendiges Nachtleben vorgefunden.
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In der Schweiz gab es damals einige Baustellen in ihrem Leben, weshalb ihr der Gedanke ans Auswandern bereits einmal gekommen war – aber in den Kosovo?
Zum Vorfühlen kam sie bald nach ihrem ersten Besuch für einen Monat zurück in den Kosovo. Am letzten Abend dieses Testmonats begegnete Krissy dann ihrem künftigen Mitbewohner. Bis drei Tage nach Krissys Rückkehr in die Schweiz sollte er sein freies Zimmer für sie reservieren, so viel Entscheidungszeit wollte sie noch haben.
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Schon auf dem Weg vom Flughafen Genf nach Yverdon-les-Bains gab sie ihm Bescheid: Sie nehme das Zimmer.
«Mein Umzug in den Kosovo war wie eine zweite Geburt», erzählt Krissy. «Ich wurde ein neuer Mensch und habe meinen Frieden mit mir gemacht.» Hier hat sie sich als Graffiti-Künstlerin etabliert und ist fester Bestandteil der Raveszene in Kosovo und dem Nachbarland Albanien.
Kunst «Made by Stern»
Ihre Graffiti-Arbeiten haben hohen Wiedererkennungswert. Man begegnet ihnen in fast allen Städten des Landes. Unter anderem durfte sie die Sternwarte von Pristina bemalen.
SWI swissinfo.ch hat sich mit Krissy bei einem ihrer riesigen Werke getroffen: vor dem 12-Meter-Wandbild im Co-Working-Space Lavjerr’s. «Lavjerr» ist Albanisch für Pendel, das Pendel der Uhr – deswegen hat sie den Raum in surrealistische Uhren gehüllt, nicht aus Schweizer Uhrmachertradition.
Tatsächlich erlebt sie das Leben in Kosovo einiges weniger getaktet. «In der Schweiz kannte ich meinen Terminplan immer ein halbes Jahr im Voraus», erzählt Krissy. «Jetzt sind es vielleicht drei Wochen.»
Vier Tage hat Krissy an der Wand im Lavjerr gearbeitet. «Etwa sechs Stunden am Tag – aber sechs intensive Stunden.» Beim Sprayen isst sie nicht, trinkt sie nicht, spricht mit niemandem. Sie brauche diese Konzentration, um arbeiten zu können.
Doch der kosovarischen Gastfreundschaft kann sie sich dabei nicht entziehen: Immer wieder kämen ihre Auftraggeberinnen und Auftraggeber, mit Limonade, mit Baklava, mit Mittagessen. «Ich schätze das sehr, und es freut mich, aber gleichzeitig ist meine Konzentration dann gebrochen.»
Die Figuren von «Made by Stern» sind knuffig, haben weiche Gesichtszüge und übergrosse Augen. «Innerlich bin ich eher kumpelhaft, aber meine Kunst ist eher mütterlich: ruhig und weich. Wer meine Kunst sieht, soll dabei innerlichen Frieden verspüren.»
Ob ihre Bilder ein Büro oder eine Strassenwand zieren, sei für sie nicht entscheidend. «Ich sehe mich als Künstlerin. Was meine Kunst zu Streetart macht, ist der Einfluss von Regen, von Kratzern durch Autos oder weil jemand draufschreibt.» Momentan plant sie Performances, in denen das Sprayen mit Musik zusammenkommen soll – das Zusammenbringen von Ton und Farbe interessiert sie.
Das Interesse daran, was sie als Künstlerin macht, wie sie es macht und weshalb sie es macht, sei in der kosovarischen Gesellschaft generell grösser. «Statt ‹Kannst du davon leben?›, wie in der Schweiz, fragen die Leute im Kosovo ‹Oh, kann ich was sehen?› In der Schweiz fühlte ich mich schuldig, weil ich mich frei fühle.» Das sei hier anders.
Ein Leben wie eine Vinylplatte
Ein dichtes Netz aus Freundinnen, Freunden und Vertrauten habe dafür gesorgt, dass Krissy vom Mietvertrag bis zur Unternehmensgründung keine Probleme beim Ankommen im Kosovo hatte.
Mittlerweile hat sie nicht mal mehr ein Schweizer Bankkonto – zum Teil auch aus Sturheit gegenüber dem Argwohn, mit der ihr Schweizer Klientinnen und Klienten begegnen. «Weil ich im Kosovo lebe, meinen manche, ich arbeite unsauber oder sei in der Mafia.»
Lange habe sie ein Konto in der Schweiz behalten, um es den dortigen Auftraggebern einfach zu machen, aber als Einwohnerin des Kosovo sei sie trotzdem misstrauisch beäugt worden.
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Darum hat sie entschieden: «Ich lebe im Kosovo. Mein Auftraggeber beauftragt jemanden, der im Kosovo lebt. Also sollen sie sich den kosovarischen Regeln anpassen. Oder halt jemanden in der Schweiz beauftragen. Das kümmert mich nicht. Ich habe Klienten dort, ich habe Klienten hier.»
In Kosovo malt sie für NGOs und Unternehmen; in der Schweiz gehört unter anderem die Stadt Genf zu den Auftraggebern von «Made by Stern».
Es sei offensichtlich, dass es in Kosovo weniger Bürokratie als in der Schweiz gebe. Doch die Bürokratie nehme auch hier zu. Krissy schätzt Sicherheit natürlich, aber alle Formulare und Formalitäten laufen ihrer anarchischen Seite zuwider.
«Das Leben im Kosovo fühlt sich analog an, wie eine Vinyl-Platte. Das Leben in der Schweiz ist wie eine MP3-Datei: digital», schildert sie. Den Fakt, dass Kosovo da der Schweiz ähnlicher wird, missfällt ihr.
«DJ-Sets sind auch besser, wenn Vinyl-Platten aufgelegt werden. Mein Leben soll ein Vinyl-Set bleiben.» Krissy ist ja auch in der kosovarischen Clubszene aktiv.
«Es nervt, Auslandschweizerin zu sein»
Krissy hat keine fixe Vorstellung davon, wo sie ihr Leben verbringt. Doch für jetzt sei sie sehr glücklich im Kosovo.
«Ob ich mich als Auslandschweizerin sehe? Es nervt, Auslandschweizerin zu sein. Natürlich ist der Schweizer Pass nützlich, auch wenn mich die Polizei anhält. Aber es nervt auch, weil manche Leute nett zu dir sind, weil sie etwas von dir wollen.»
Zum Glück sei ihr Albanisch nun gut genug, dass sie die meisten für eine Albanerin halten.
«In Albanien werde ich gefragt, ob ich aus Kosovo bin. Im Kosovo fragen sie mich, ob ich aus Albanien bin. Meistens sage ich einfach ja.»
Editiert von David Eugster.
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