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«Bären gehören zum Artenbestand in den Alpen»

Der Mitte Juni eingewanderte Bär nahe dem Umbrailpass. sf.tv (adolf botsch)

Jedes Jahr spalten emotionale Diskussionen die Gesellschaft, wenn Schafe von Bären oder anderen Wildtieren gerissen werden. Grossraubtiere wie Bären gehören zum normalen Artenbestand in den Alpen, sagt Nationalpark-Direktor Heinrich Haller.

Es war den Schweizer Medien zu entnehmen: Seit einigen Tagen erkundet wieder ein Bär den Kanton Graubünden.

Er hat 5 Schafe gerissen, und deshalb fordern – laut dem Tagesanzeiger – bündnerische Schafzüchter, er solle abgeschossen werden.

Der vorletzte Bär, der im Bündnerland auftauchte, JJ3, entwickelte sich 2007 zu einem Risikobären und wurde letztlich getötet. Die Beziehung Bär – Zivilisation wurde ihm zum Verhängnis.

«Grossraubtiere wie Braunbären, Wölfe und Luchse gehören zum normalen Artenbestand in der Schweiz», sagt Heinrich Haller, Wildbiologe und Direktor des Schweizerischen Nationalparks im Kanton Graubünden.

«Ich denke, es ist eine Verpflichtung der menschlichen Gesellschaft, dass eben diese Artenvielfalt erhalten bleibt.»

2010 ist von der Uno zum Jahr der Biodiversität erklärt worden: «In der Schweiz haben wir schwerwiegende Verluste der Arten zu beklagen. Wenn nun ganz punktuell eine Gegenbewegung da ist, wenn zum Beispiel Bären in den Alpen auftauchen, dann sollte das unterstützt werden», sagt Haller.

Männliches Jungtier

Der Bär, der im Engadin herumgestreift ist, sei vermutlich ein männliches Jungtier. Er komme aus dem italienischen Trentino, das an das Südtirol grenzt. Dort hatten die letzten ursprünglichen Braunbären der Alpen überlebt.

Der Bestand war jedoch zu klein, um sich selbst erhalten zu können, deshalb wurden vor rund 10 Jahren 10 Braunbären aus Slowenien freigelassen. Nun gibt es wieder Nachwuchs, und die jungen Tiere gehen auf Wanderschaft.

«Von einer eigentlichen Rückkehr des Braunbären im Sinne einer residenten und sich erhaltenden Population kann in der Schweiz nicht die Rede sein. So weit ist es noch lange nicht», erklärt Haller. «Eine Population kann sich erst etablieren, wenn auch Weibchen einwandern würden. Das tun sie zur Zeit nicht.»

Die eingewanderten männlichen Bären seien vermutlich noch nicht geschlechtsreif. Nach der Erkundung des Terrains kehren sie in ihre angestammten Gebiete zurück, um sich später dort fortzupflanzen. Doch längerfristig schliesst der Direktor des Nationalparks nicht aus, dass sich in der Schweiz eine Population bilden könnte.

Platz gäbe es genug

«Der Alpenraum ist gut geeignet, um die natürliche Artenvielfalt auch auf der Ebene der Grossraubtiere zu beherbergen. Es hängt von uns Menschen ab, ob wir das wollen. Luchs, Wolf und Bär können alle im Alpenraum existieren», sagt Haller.

Platz gebe es genug, und Nahrung auch: «Wölfe und Luchse haben bei uns sehr gute Lebensbedingungen. Wir haben in den Alpen viele wildlebende Huftiere, wie Rehe und Rothirsche. Die Nahrungsgrundlage ist sehr hervorragend.»

Und der Bär sei in Europa eher Vegetarier. «Wenn die Bären Fleisch fressen, dann häufig von Tieren, die schon tot sind oder krank. Seine Fählgkeiten als Jäger sind begrenzt, wodurch die kaum flüchtenden Schafe zu einem beliebten Angebot werden.»

Dass es Probleme gibt mit den Grossraubtieren, auch mit Bären, streitet der Experte nicht ab. Er hält jedoch fest: «Grosse Verluste an Schafen von unbehirteten Herden gibt es auch ohne Grossraubtiere.»

Bei Schäden von Bären bezahlt der Bund 80%, der betroffene Kanton 20%. Der Bund hat neben der Regelung, wer für die Schäden von Bären aufkommt, ein Bärenkonzept entwickelt. Dieses geht davon aus, «dass ein Zusammenleben von Menschen und Bären unter bestimmten Voraussetzungen auch in der Schweiz möglich ist».

Im Gegensatz zu Wölfen und Luchsen dürfen Bären nicht nach einer bestimmten Anzahl gerissener Schafe abgeschossen werden. Im Bärenkonzept steht, wann ein Bär zum Risikobären erklärt wird und wann er durch Abschuss entfernt wird.

Der betroffene Kanton entscheidet über die Abschussbewilligung, muss aber vorher eine interkantonale Kommission (IKK) konsultieren.

Ergänzend zum Bärenkonzept hat der Bund auch ein Herdenschutz-Konzept entwickelt, das er finanziell unterstützt. Wie sich diese Massnahmen auswirken, ist allerdings umstritten.

Fressen und Gefressenwerden

Neben der Artenvielfalt gibt es nach der Meinung von Heinrich Haller noch andere Gründe, warum Grossraubtiere am Leben gelassen werden sollten: «Fressen und Gefressenwerden ist ein Grundprinzip der Natur. Es ist auch der Motor der evolutiven Entwicklung der gesamten Natur.»

Er erklärt: «Das Zusammenleben mit Wölfen und Luchsen war entscheidend dafür, dass die Hauptbeutetiere Hirsche und Rehe ihre heutige Ausprägung haben.» Haller meint damit beispielsweise die besonderen Fluchtmöglichkeiten von Rothirschen oder die hohe Fortpflanzungsrate von Rehen.

«Wenn wir wollen, dass sich diese Tiere natürlich weiterentwickeln, müssen wir dafür sorgen, dass der Motor der evolutiven Entwicklung wieder in Gang kommt. Das Vorbild der Natur ist absolut das Beste.»

Dieses habe sich während der Erdgeschichte herausselektioniert und sich als optimal erwiesen. «Wenn Grossraubtiere einige Zeit lang gefehlt haben, ist das bedauerlich; es wäre sinnvoll, dass diese Tiere ihre Funktion in der Natur wieder wahrnehmen würden.» Jagd sei als nachhaltige Nutzung sinnvoll, die Wirkung der Grossraubtiere könnten die Jäger indes nicht ersetzen.

Eveline Kobler, swissinfo.ch

Für den Präsidenten des bündnerischen Schaftzuchtverbandes, Duosch Städler, ist laut Tagesanzeiger das Konzept gescheitert. Das Bundesamt für Umwelt ist gegenteiliger Meinung.

Bären können auch in von Menschen besiedelten Gebieten unauffällig leben, wenn sie genügend Nahrung und Rückzugsmöglichkeiten finden. Begegnungen zwischen Bären und Menschen sind seltene Ereignisse.

Ein Bär kann sich auf anthropogene Nahrungsquellen spezialisieren und regelmässig materielle Schäden verursachen, indem er Nutztiere reisst oder Bienenstöcke und Obstgärten plündert. Ein solcher Bär sucht immer häufiger die Nähe zum Menschen oder zu Siedlungen.

Ein Problembär zeigt trotz wiederholter Vergrämung keine wachsende Menschenscheu, oder er hat einen Menschen in aggressiver Manier angegriffen, ihn verletzt oder gar getötet. Sobald ein Bär als Risikobär eingestuft ist, wird er durch Abschuss entfernt. Die Unterbringung in einem Gehege oder eine Umsiedlung ist nie eine Option.

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