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«Die Verzweiflung vieler Bauern wird unterschätzt»

Über 10'000 Schweizer Landwirte demonstrierten im November 2015 gegen die vom Bund geplanten Kürzungen für den Bauernstand. Keystone

Jedes Jahr geben in der Schweiz Hunderte von Bauern ihre Höfe auf. Hinter den nackten Zahlen verstecken sich menschliche und familiäre Dramen. Und in einigen Fällen auch Tragödien. Im Kanton Waadt kam es in den letzten beiden Jahren zu 12 Suiziden. Seit einem guten Jahr kümmert sich ein Bauernpfarrer um die in Schwierigkeiten geratenen Bauernfamilien. swissinfo.ch erzählt die Geschichte eines Landwirts aus dem Berner Seeland, der eine schwierige Phase durchlebt.

Hans* seufzt. Sein Stall ist kalt und trostlos leer. An der Wand lehnen eine Heugabel, ein Besen und ein Melkschemel. «Es ist nicht einfach», sagt Hans und schaut ins Leere. Woran er wohl denkt? An die 18 Milchkühe, die er letztes Jahr verkauft hat? Oder an die Zukunft, die er sich kaum vorstellen kann?

Hans ist gut 50 Jahre alt. 30 Jahre lang hat er gemolken und die Milch in die lokale Käserei gebracht. Dort wurden Joghurt, Quark und Butter hergestellt. «Ich konnte so aber nicht mehr weiter machen», erzählt er mit einem Hauch von Resignation. Im Herbst 2015 konnte er sich nach einem doppelten Bandscheibenvorfall kaum mehr bewegen. Erst nach langwierigen Therapien kam er wieder auf die Beine. Er muss aber seither auf seine Gesundheit achten.

Im vergangenen Sommer gab es zudem gravierende Probleme mit der Fruchtbarkeit seiner Milchkühe. «Niemand konnte die Gründe für diese Schwierigkeiten herausfinden», erinnert sich Hans. Dazu kam die Notwendigkeit, den 30 Jahre alten Stall mit seinem veralteten Inventar zu renovieren. Dafür hätte er Geld aufnehmen müssen. Allein schon der Gedanke daran belastete ihn, zumal alle vier Kinder andere berufliche Wege eingeschlagen haben.

Ende 2016 kapitulierte er. «Ich habe nicht versagt», sagt Hans, «denn ich habe meine Arbeit als Bauer geliebt, genauso wie die Tiere, aber ich war einfach nicht mehr bereit, diese Arbeit zu jeglichem Preis zu machen». Doch der Entscheid, alles aufzugeben, hat sein Leben und seinen Alltag vollkommen durcheinander gewirbelt. Bis anhin diktierten die Tiere den Tagesablauf, nun scheint ein Tag manchmal unendlich lang. Er ist Hausmann, die Ehefrau ist beruflich ausser Haus unterwegs.

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Opfer der technologischen Innovationsmühle

Jedes Jahr stellen Hunderte von Bauernhöfen in der Schweiz ihren Betrieb ein. Seit 1980 hat sich die Zahl der Betriebe halbiert. Heute gibt es noch rund 53’000. Allein im Jahr 2015 verschwanden 800 Landwirtschaftsbetriebe, vor allem kleine und mittlere Betriebe, und vor allem solche, die auf Milchwirtschaft spezialisiert waren.

Hingegen nimmt die Zahl grosser Betriebe mit mehr als 50 Hektaren zu. «Wie in allen Wirtschaftsbereichen gibt es auch in der Landwirtschaft einen Strukturwandel», sagt der Ingenieur-Agronom und Landwirtschaftsexperte Gianluca Giuliani. «Bauernhöfe sind dazu verdammt zu wachsen, um produktiv und nachhaltig zu sein. Oder sie müssen Nischenmärkte finden, etwa Angebote mit Ferien auf dem Bauernhof oder über den Direktverkauf ihrer Produkte. Doch nicht alle Betriebe haben solche Chancen. Gerade kleinere und mittlere Betriebe, die nicht mit der Zeit gehen können, haben kaum Überlebenschancen.

Der Strukturwandel in der Landwirtschaft lässt sich laut Giulini auch mit wirtschaftlichen Instrumenten analysieren. Dabei verweist er auf die Theorie des US-amerikanischen Agrar-Experten Willard Cochrane, wonach dieser Prozess durch die so genannte Mühle der technologischen Innovation begünstigt wird (agricultural technology treadmill).

Dieser mehrphasige Prozess läuft gemäss Giuliani wie folgt ab: «Dank einer technologischen Neuerung kommt es zu einer Überproduktion und als Folge zu einem Preiszerfall. Alte, arme oder verschuldete Bauern, welche die Technologie gekauft haben, treibt dies in den Ruin. Sie geben auf, was die Produktion verringert und zu einer Erhöhung der Preise führt. Und dann beginnt dieser Kreislauf leider von vorne.»

Bauernpfarrer hilft Familien in Not

Diese Mühle produzierte jedes Jahr Hunderte von Opfern, darunter auch Bauer Hans aus dem Berner Seeland. «Irgendwann wird sich schon wieder eine Spirale der Hoffnung öffnen», sagt er. Doch es sei für ihn nicht einfach, das Leben zu ändern, nachdem er stets unabhängig, an der frischen Luft und in Kontakt mit den Tieren gearbeitet habe.

Allein im Kanton Waadt haben in den letzten beiden Jahren 12 Landwirte Suizid begangen. Das hat in Landwirtschaftskreisen zu grosser Betroffenheit und Verunsicherung geführt. Gegenmassnahmen wurden getroffen. Seit Herbst 2015 kümmert sich ein Bauernpfarrer um krisengeschüttelte Landwirte. Pierre-André Schütz, reformierter Pfarrer im Dorf Autavaux in der Nähe von Neuenburg, betreut rund 40 Familien. «Ich treffe sehr viel Verzweiflung an. Die Menschen haben häufig Angst vor der Zukunft», erzählte Schütz am Deutschschweizer Radio SRF.

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SRF 10vor10 vom 16.3.2017: Ein Seelsorger für Waadtländer Bauern

Pierre-André Schütz weiss, wovon er redet. Er war bis zum Alter von 52 Jahren selbst Bauer. Nach einer Depression entschloss er sich, Theologie zu studieren. Inzwischen ist er 67 Jahre alt, aber er hat keine Zeit für den Ruhestand. Der Kanton Waadt hat eine 50-Prozent-Teilzeitstelle geschaffen, aber tatsächlich arbeitet er Vollzeit: «Ich werde mit Anfragen überhäuft. Die Verzweiflung vieler Bauern wird völlig unterschätzt.» Ein Bauer, der Konkurs mache, sei gezwungen, Hof und Ländereien zu verkaufen, die häufig über Generationen vererbt worden seien. «Das wird als Schande erlebt, als Erniedrigung, die manchmal unerträglich wird», so Schütz.

Bäuerliches Sorgentelefon

De Strukturwandel in der Landwirtschat ist sicherlich nicht allein verantwortlich für die Verzweiflung. Mehrere Faktoren kommen zusammen. «Auf den Bauernöfen leben mehrere Generationen unter einem Dach – Grosseltern, Eltern, Kinder. Dieses Zusammenleben ist problematischer geworden, weil sich die Bedürfnisse im Vergleich zu früher verändert haben», sagt Lukas Schwyn, Pfarrer in einer Pfarrgemeinde im Emmental und Präsident des «Bäuerlichen SorgentelefonsExterner Link» «Die Mehrheit der Bauernfrauen hat eine sehr gute Ausbildung und möchte auch ausserhalb des heimischen Hofs Karriere machen. Die Männer bestehen häufig auf einer traditionellen Rollenverteilung.»

Im hügeligen Emmental etwa stehen die Bauern vor besonders grossen Problemen. Thomas Kern/swissinfo.ch

Das bäuerliche Sorgentelefon wurde 1996 gegründet. Träger ist ein gemeinnütziger Verein. Die Zahl der Anfragen steigt. Im Jahr 2015 erhielt dieses Sorgentelefon 151 Anrufe, doppelt so viele wie 2011. Die Mehrheit der Anrufer sind Männer. In 39 Prozent der Fälle geht es um Familienkonflikte. Danach folgen finanzielle und wirtschaftliche Probleme.

«Vor allem Landwirte zwischen 50 und 65 fragen sich häufig, ob sie nicht einfach alles aufgeben sollen», sagt Schwyn. Er betont zudem, dass die Suizide in der französischen Schweiz nicht allein mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Zusammenhang mit der heutigen Agrarpolitik erfolgten. Persönliche Probleme oder Paarprobleme spielten ebenfalls eine wichtige Rolle. «Es ist sehr selten, dass uns Bauern in Gesprächen von Suizid-Absichten berichten. Doch wir stellen eine wachsende Anzahl von Anrufen wegen Depression und Burn-Out fest.»

Mit Sicherheit ist in der ganzen Schweiz etwas in Bewegung geraten, um Bauernfamilien in sozialen und/oder finanziellen Schwierigkeiten zu helfen. Seit Frühjahr 2015 treffen sich Vertreter verschiedener Anlaufstellen der Deutschschweiz in der Plattform «Notfallhilfe». Damit wurde ein Schritt zum Informations- und Erfahrungsaustausch gemacht. Ziel ist es, voneinander zu lernen und die Angebote sowohl inhaltlich als auch institutionell weiter zu entwickeln. Auch im Kanton Waadt werden verschiedene Berufskategorien, die in nächster Nähe zu Bauern arbeiten (Veterinäre, Vertreter von Landwirtschaftskooperativen, etc.) ausgebildet, um Anzeichen für einen möglichen Suizid zu erkennen.

Zurück zum Bauernhof von Hans im Berner Seenland: Wir verabschieden uns nach unserem Besuch und dem Gespräch. Er nimmt eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank und giesst für seine Katze etwas davon in ein Schälchen. Die Milch stammt nicht mehr von seinem Hof. Denn er hat keine Kühe mehr.

*(Name von der Redaktion geändert)

System der Direktzahlungen

Jedes Jahr erhalten rund 53’000 Bauernbetriebe in der Schweiz Direktzahlungen in Höhe von 2,8 Mrd. Franken. Gemäss einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unterstützt kein anderes Land der OECD (insgesamt 34 Staaten) die eigenen Landwirte so massiv wie die Eidgenossenschaft.

Im Jahr 2015 stammten rund 62% des Verdienstes von Landwirtschaftsbetrieben aus den öffentlichen Kassen. Doch im Vergleich zu früher ist die Abhängigkeit der Landwirtschaft vom Staat zurückgegangen. In den Jahren 1986 bis 1988 stammten sogar 78% des Verdienstes von Bauern von der öffentlichen Hand.

Bis 2013 unterschied man zwischen allgemeinen Direktzahlungen und ökologischen Zahlungen. Dank Anwendung der Agrarpolitik 2014 -2017 gibt es seit 2014 sieben unterschiedliche Zuwendungen. Diese werden zielgerichtet zugunsten von Leistungen eingesetzt, die nicht vom Markt abgegolten werden, beispielsweise zur Offenhaltung der Kulturlandschaft, dem Schutz der Biodiversität und der Förderung von umweltschonenden Produktionsmethoden.

(Quelle: Agrarbericht 2016Externer Link)

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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