Bedenken nach Antwort der Kirche zu Kindsmissbrauch
Die Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester in der Schweiz kritisieren, dass nicht genug unternommen werde, um gegen Übergriffe vorzugehen. Die neuen Präventionsrichtlinien der Katholischen Kirche der Schweiz, die infolge des weltweiten Skandals erlassen wurden, können die Bedenken nicht beseitigen.
«Wo sind all die Schweizer Priester, die angeklagt wurden», fragt Gérard Falcioni, Skilehrer und Hirte aus dem Dorf Bramois im Kanton Wallis.
Er war im Alter von fünf Jahren selber von einem Priester in der Region missbraucht worden. Gérard Falcioni gehört zu den wenigen Opfern, die in der Öffentlichkeit über ihre eigene Misshandlung ausgesagt und die Kirche angeklagt haben. Über seine Geschichte hat er zwei Bücher geschrieben und vielen Medien Auskunft gegeben. Aber jetzt hat er genug.
«Wir stehen vor einer dicken Mauer und wir können nichts dagegen tun. Sie können tun und lassen, was sie wollen», sagt er gegenüber swissinfo.ch.
Gérard Falcioni ist nicht der einzige, der Fortschritte im Kampf gegen Kindsmissbrauch bezweifelt.
Die Kirche habe zwar nach den ab 2010 bekannt gewordenen Skandalen ihre Tore durch Dialog geöffnet, sagt Jean-Marie Fürbringer, Präsident der Vereinigung «Faire le Pas», die sich für die Missbrauchsopfer engagiert. «Aber wir haben den Eindruck, dass es immer noch Probleme und eine Kultur des Schweigens gibt.»
«Kirchenfunktionäre halten die Hände der Opfer, drücken ihr Bedauern aus, aber es wird nicht über Entschädigung gesprochen und spielt sich äusserst diskret ab. Man hat den Eindruck, dass die Kirche ihre Rolle nicht ernst nimmt», sagt er.
Sie sei im Allgemeinen schlecht über die Missbräuche informiert. Er habe vor einigen Jahren mit Priestern in Luzern gesprochen, die befürchtet hätten, dass das Problem viel grösser sein könnte, als sie sich vorgestellt hätten.
Neue Richtlinien
Ende Januar, zwei Wochen nachdem der UNO-Kinderrechtsausschuss in Genf den Vatikan wegen des Ausmasses von Kindsmissbrauchsfällen durch Priester auf der ganzen Welt in die Mangel genommen hatte (Vgl. rechte Spalte), erliess die Katholische Kirche der Schweiz die dritte Ausgabe ihrer eigenen Präventionsrichtlinien «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» für Geistliche und andere Kirchenfunktionäre.
Das war ihre letzte Antwort auf den Missbrauchsskandal. Die neuen Richtlinien, erklärt die Bischofskonferenz, legten mehr Gewicht auf Prävention und Ausbildung. Der Geltungsbereich werde ausgedehnt, sodass auch religiöse Gruppen und Aktivitäten ausserhalb der Verantwortlichkeit der Diözese miteinbezogen seien. Die Richtlinien sollten auch mehr Transparenz schaffen über Priester, die ihren Wirkungsort wechselten. Neue Kirchenangestellte müssten einen Strafregisterauszug vorlegen.
«Wer die Richtlinien genau liest, stellt fest, dass die Kritik der UNO nicht mit der konsequenten und transparenten Haltung der Katholischen Kirche in der Schweiz übereinstimmt», sagt Pfarrer Joseph Bonnemain, Sekretär eines Fachgremiums, das die Schweizer Bischofskonferenz über verschiedene Aspekte der sexuellen Übergriffe in der Kirche der Schweiz berät.
Der Vatikan sollte sein Kirchengesetz in Einklang mit der UNO-Konvention für Kinderrechte bringen, die der Heilige Stuhl 1990 ratifiziert hatte.
«Bei der Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs hat der Heilige Stuhl die Wahrung des Rufs der Kirche und den Schutz der Täter über die Interessen der Kinder gestellt.»
«Das Komitee ist sehr besorgt, dass der Heilige Stuhl das Ausmass der begangenen Verbrechen nicht anerkennt, die erforderlichen Massnahmen zur Verfolgung von Missbrauchsfällen und zum Schutz der Kinder nicht ergreift und Strategien und Praktiken anwendet, die zu einer Fortsetzung von Übergriffen und zur Straflosigkeit der Täter geführt haben.»
Das Gremium fordert den Vatikan auf, die Versetzung von Tätern oder Verdächtigten zu stoppen, die eine Vertuschung der Verbrechen zur Folge hätten. Eine im letzten Jahr gegründete Kommission des Vatikans sollte «alle Fälle sexuellen Missbrauchs sowie das Verhalten der Katholischen Hierarchie bei den Verfahren untersuchen».
Es rief den Vatikan auf, «alle bekannten und verdächtigten Schänder sofort von ihren Aufgaben zu entheben und die Angelegenheit den zuständigen Strafverfolgungs- und Untersuchungsbehörden zu übergeben».
Der Vatikan solle die Ausbildung über Kinderrechte für Priester und Mitglieder der katholischen Orden und Institutionen, die mit Kindern zu tun hätten, fördern.
Spitze des Eisbergs
Gemäss den statistischen Angaben der Schweizer Bischofskonferenz meldeten sich von 2009-2012 193 Opfer, die über Missbräuche in der Schweizer Diözese seit 1960 berichteten. Die Übergriffe waren von 172 Priestern und Laien verübt worden.
Die meisten Fälle betreffen die Diözesen von St. Gallen, Chur und Basel. Wenige sind neu, die meisten waren 2010 bekannt geworden, als das Medieninteresse am grössten war. Für die grosse Mehrheit der Fälle ist die Verjährungsfrist abgelaufen oder sind die Priester gestorben und nur eine Handvoll endeten mit Schuldspruch, Amtsenthebung oder Entschädigung.
«Faire le Pas» engagiere sich weiterhin für Missbrauchsopfer, aber die Institution vertrete nur fünf Prozent der Leute, von denen sie kontaktiert werde, sagt Fürbringer. Er ist überzeugt, dass es sich nur um die Spitze des Eisbergs handle, weil die Betroffenen Angst hätten, sich zu melden.
Für Jacques Nuoffer, Präsident der «Groupe Sapec», die Opfer von Übergriffen durch Priester in der französischsprachigen Schweiz vertritt, führen die Richtlinien und Normen «in die richtige Richtung». «Aber sie werden nur selten angewendet und sind sehr regional. Jeder Bischof macht, was er will», sagt Nuoffer, der selber von einem Priester in der Region Freiburg missbraucht worden war.
Der Vatikan bezeichnet den UNO-Bericht 2014 über den sexuellen Missbrauch von Kindern durch Geistliche als verzerrt, unlauter und ideologisch befangen.
Erzbischof Silvano Tomasi, der auf die Kritik im Bericht über die kirchliche Haltung gegenüber Homosexualität, Abtreibung und Verhütung Stellung genommen hatte, sagte auch, dass die Weltorganisation von der Kirche nicht verlangen könne, ihre «nicht-verhandelbare» Morallehre zu ändern.
Am Radio Vatikan sagte er, dass Nicht-Regierungsorganisationen, welche die Heirat von gleichgeschlechtlichen Paaren unterstützten, vermutlich ihren Einfluss auf das UNO-Komitee für die Rechte der Kinder ausgeübt hätten, um eine «ideologische Linie» des Berichts zu bewirken.
«Es braucht Zeit»
Bonnemain weist die Kritik zurück. Er beschreibt die Haltung der Kirche gegenüber Opfern, ihren Umgang mit nachgewiesenen und mutmasslichen Fällen sowie mit den Verfahrensregeln als «präziser und umfassender» als in der Vergangenheit.
Die neuen Richtlinien sollten einen ausgeglichenen weltweiten Zugang ermöglichen, sagt er, aber seine Kommission habe weder Monitoring- noch Entscheidungsfunktion: «Wir ziehen es vor, den Diözesen und anderen religiösen Organisationen professionelle Hilfe anzubieten, damit sie das Problem Schritt für Schritt mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit und Kompetenz angehen können. Es geht dabei darum, die Leute zu überzeugen und zu ermutigen. Es braucht Zeit.»
Nuoffer ist entschlossen, seinen Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit in seinem eigenen Fall und für andere Opfer fortzusetzen. Kontakte mit der für seinen Täter verantwortlichen Diözese sind bisher ergebnislos geblieben. In einem Brief von 2012 lehnte das Oberhaupt der Französisch-Schweizerischen Kongregation der Missionare des heiligen Franz von Sales sein Gesuch für Informationen über seinen Schänder und für Entschädigungen ab.
Aber Nuoffer lässt sich nicht abschrecken: «Ich verlange Informationen über meinen Fall, Anerkennung der moralischen Verantwortlichkeit für die Verletzungen, die ich erlitten habe, und Entschädigung», sagt er.
Kürzlich kontaktierte er die für sexuelle Übergriffe zuständige Kommission der Katholischen Kirche in der Schweiz, welche als Vertretung eines Opfers die Entschädigungsfrage prüft.
Ausserdem habe er die Unterstützung von einem Dutzend Parlamentariern aus der französischsprachigen Schweiz für seine Idee, ein unabhängiges Gremium zu bilden, das bei Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche der Schweiz Untersuchungen anstellt und vermittelt. Es sollte vergleichbar sein mit dem erfolgreichen Schiedsgericht in Belgien, das unabhängig von der Kirche wäre, deren Kommission für Übergriffe lediglich eine konsultative Funktion hat.
«Wir müssen Lösungen finden für Entschädigungen bei verjährten Fällen und für angemessene Präventionsmassnahmen. Aber solange die Kirche für die Angelegenheit zuständig ist, tut sich nichts. Es gibt immer noch einige Bischöfe, die sich gegen Entschädigungslösungen stemmen», sagt er.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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