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Berichte über Suizidbegleitung stark «übertrieben»

Palliative Pflege bringt viele kranke Menschen davon ab, Sterbehilfe in Betracht zu ziehen. Keystone

"Boomende Schweizer Suizidtourismus-Industrie", "Alle zwei Wochen geht ein Brite in die Schweiz" oder "Die Schweiz: Suizid-Destination" – so lauteten einige Schlagzeilen der letzten Zeit. Sterbehilfe-Gruppen und Palliative-Care-Experten sagen, das sei stark übertrieben.

Der jüngste Medienrummel wurde ausgelöst durch eine von der Universität Zürich am 21. August veröffentlichte Studie. Die Forscher waren zum Schluss gekommen, dass sich die Zahl der Menschen, die für Sterbehilfe in die grösste Schweizer Stadt reisten, zwischen 2008 und 2012 verdoppelt hat. 2012 reisten der Studie zufolge 172 Sterbewillige – darunter 77 aus Deutschland und 29 aus Grossbritannien – nach Zürich.

Doch sind die zugrundliegenden Zahlen im Bereich Suizidbegleitung tatsächlich so schlagzeilenträchtig? Nicht wirklich. Etwa 1,3% der rund 40’000 Palliativ-Patientinnen und Patienten mit Wohnsitz in der Schweiz nutzten 2012 Sterbehilfe, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.

DignitasExterner Link, die grösste Vereinigung, die assistierten Suizid auch für Personen anbietet, die nicht in der Schweiz wohnen, registrierte 2012 im ganzen Land 198 Fälle. Bernhard Sutter, Vizepräsident von ExitExterner Link, einer weiteren Sterbehilfe-Gruppe, sagt, die Fälle aus dem Ausland seien in den letzten zehn Jahren konstant bei etwa 225 Fällen pro Jahr gelegen.

Hingegen steige die Zahl von Personen mit Wohnsitz in der Schweiz, die zur Sterbehilfe greifen, jedes Jahr, erklärt Sutter. 2012 waren es 508, 18% mehr als im Jahr davor. Die meisten dieser Sterbewilligen wurden von Exit begleitet. Der Verein bietet seine Dienstleistung seit mehr als 30 Jahren an, aber nur für Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz.

Das sind aber nur halb so viele, wie jene, die sich jedes Jahr durch Erschiessen, durch einen Sprung vor einen Zug oder auf sonst eine andere Art ihr Leben nehmen.

Palliative care

Palliative Care ist ein multidisziplinärer Ansatz, der die spezialisierte medizinische Betreuung und Behandlung von Menschen umfasst, die unter lebensbedrohlichen, unheilbaren und/oder chronisch fortschreitenden Krankheiten leiden. Palliativ Care fokussiert darauf, Symptome, Schmerzen und Stress der Patienten zu lindern, auf ihre Bedürfnisse einzugehen, mit dem Ziel den Patienten eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende zu verschaffen.

Palliative Externer Linkist die Schweizerische Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung. Sie hat heute etwa 2400 Mitglieder aus verschiedenen Berufsgruppen, darunter Ärzte und Pflegende, Seelsorger und andere mehr.

Entscheid einer Minderheit

«Nur eine Minderheit entscheidet sich für begleitete Sterbehilfe», erklärt Andreas Weber, Experte für Palliative Care im Spital Wetzikon bei Zürich gegenüber swissinfo.ch.

«Für eine grosse Mehrheit ist dies gar nie eine Option. Und für die meisten Menschen, die Sterbehilfe in Betracht ziehen, wenn sie sich zum ersten Mal mit ihrer Diagnose auseinandersetzen müssen, ist das Thema vom Tisch, wenn wir ihre Befürchtungen verringern und erklären, was wir tun können.»

Maria Walshe, eine weitere Palliativ-Expertin, teilt Webers Ansicht. «Ich weiss nur von ein paar isolierten Fällen, in denen unsere Patienten zu dieser Option griffen», sagt Walshe. «Im Zentrum für Palliative Care am Kantonsspital Winterthur ist es nie unsere Aufgabe, Leben zu verkürzen, sondern in erster Linie Symptome zu lindern. Wir sprechen mit den Patienten, klären ihre Wünsche ab und definieren ihre Bedürfnisse ohne jegliche Vorurteile.»

Die einzigen Fälle, bei denen Fachleute wissen, dass Patienten ihren Entscheid durchziehen werden, sind jene, die sie als «rationale Suizide» bezeichnen. Es sind Menschen, die ihre Meinung gemacht, einen intellektuellen Entscheid gefällt haben. Sie haben ihre Angelegenheiten in Ordnung gebracht, sind Exit-Mitglied und bereit, zu sterben. In solchen Fällen sei es praktisch unmöglich, jemanden zu einem Sinneswandel zu bewegen, erklärt Weber.

Weniger als 1% seiner Patienten vollziehe aber tatsächlich diesen drastischen Schritt, sagt Weber. Die selben Beobachtungen machen auch die Fachleute von palliative.ch, einer Vereinigung von Spezialisten, die in der Schweiz mit Palliative Care befasst sind.

«Für die meisten Patienten ist dies keine Option, zu wissen, dass es diese Option gibt, ist aber so etwas wie eine Versicherung für Leute, die ihre Autonomie, ihre Selbstbestimmung und ihre Würde behalten wollen», erklärt Sonja Flotron, die Präsidentin von palliative.ch.

Palliativ-Care-Fachkräfte bieten Beratungen an, organisieren Pflege zu Hause, lindern Symptome und tun grundsätzlich alles, was möglich ist, um die Bedürfnisse ihrer Patienten abzuklären, deren Schmerzen zu lindern, Sorgen zu verringern und für die Zeit, die diesen Menschen noch bleibt, für eine bestmögliche Lebensqualität zu sorgen.

Palliative-Care-Bedürfnisse

Die Zahl der Patientinnen und Patienten, die auf Palliative Care angewiesen sein werden, wird nach Prognosen der Regierung bis 2032 auf mehr als 50’000 ansteigen.

Dennoch werden sich viele Leute erst dann bewusst über das Konzept und welche Angebote es gibt, wenn ein nächster Angehöriger oder sie selber an einer unheilbaren Krankheit leiden. Das ist auch der Moment, in dem viele eine Patientenverfügung erstellen. Ein Dokument, in dem man schriftlich festhält, welche Art Gesundheitsversorgung man sich auf das Lebensende hin wünscht oder ablehnt, für den Fall, dass man selber nicht mehr urteilsfähig ist oder sich nicht mehr selber äussern kann. Es gibt auch Leute, die sich entscheiden, Exit beizutreten.

Sterbehilfe

Krebs im Endstadium ist der Hauptgrund, warum Patienten die Unterstützung von Sterbehilfe-Organisationen suchen. Danach folgen neurologische Leiden wie die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Multiple Sklerose (MS), Lähmung und Parkinson-Erkrankung, aber auch Schmerzsyndrome. All diese Krankheiten sind unheilbar, auch wenn einige darunter strikt betrachtet nicht tödlich sind.

Palliative-Care-Fachleute erklären, dass etwa 10% ihrer Patienten (und der Bevölkerung allgemein) eine Suizidbegleitung in Betracht ziehen würden. Acht von zehn tun dies, weil sie befürchten, dass sie entweder unter unerträglichen Schmerzen leiden oder ersticken könnten, oder dass sie ihre Autonomie verlieren und ihren nächsten Angehörigen zur Last fallen könnten. Normalerweise änderten sie jedoch dank der Palliative Care ihre Meinung. Nur etwa 2% würden tatsächlich Kontakt mit einer Sterbehilfe-Organisation aufnehmen.

EXIT Deutsche Schweiz hat rund 75’000 Mitglieder, EXIT Suisse Romande 20’000 und Dignitas 6000. Weitere kleiner Organisationen zusammen haben nochmals 4000 Mitglieder.

Militantere Vereinigungen wie Dignitas und Sterbehilfe Deutschland, aber auch Gruppierungen wie Life Circle oder EX-International mit einem weniger prominenten Profil, bieten auch Dienstleistungen für Personen an, die aus dem Ausland anreisen.

Da die Weltgesundheits-Organisation WHO keinen Code für begleitete Suizide hat, werden diese Fälle in der Schweizer Todesfallstatistik seit 2009 nicht mehr unter den verschiedenen Arten von Suizid erfasst, sondern unter den Todesfällen, die auf die Krankheit zurückgehen, unter denen die Leute gelitten hatten.

Exit war auch unter den ersten Organisationen, die schon vor mehr als 25 Jahren Palliative Care anboten. Der Verein ist gesetzlich verpflichtet, seine Mitglieder oder Kunden über alle Alternativen zur Sterbehilfe zu informieren, wie Sutter erklärt. Für ihn ist dies kein Paradox.

«Palliative Care und Sterbehilfe sind keine Gegensätze, oft ergänzen sie einander», erklärt er. «Exit erhält pro Jahr mehr als 2000 Sterbehilfe-Gesuche, doch nach einer Beratung mit uns entscheiden sich mehr als 80% der Leute für einen anderen Weg – viele davon setzen auf Palliative Care.»

Organisationen, die begleitete Sterbehilfe anbieten, müssen nicht für ihre Dienste werben. Exit Deutsche Schweiz verzeichnet pro Jahr etwa 8000 Neuzugänge. In der Schweiz haben die Sterbehilfe-Organisationen mehr als 100’000 Mitglieder – ähnliche Zahlen wie in den Niederlanden und Japan. Die Schweiz hat zudem die höchste Pro-Kopf-Zustimmungsrate zu Sterbehilfe weltweit. Letztlich entscheiden sich jedoch jedes Jahr weniger als 1% der Exit-Mitglieder für den assistierten Suizid, sagt Sutter.

Der Fall Schweiz

Seit 1942 wird Beihilfe zum Suizid in der Schweiz gerichtlich nicht verfolgt, solange die Hilfeleistung nicht aus selbstsüchtigen Motiven erfolgt. Auch andere Länder haben Gesetze, die Sterbehilfe in einem strikten legalen Rahmen erlauben, teilweise auch für Menschen ohne Wohnsitz im betreffenden Land. Die Schweiz verfolgte historisch einen pragmatischen Ansatz und hat eine lange Tradition der Unterstützung von Menschenrechten und Selbstbestimmung. Dennoch ist das Land keine Ausnahmeerscheinung.

«Gäbe es eine Volksabstimmung über Sterbehilfe, würde diese in ganz Westeuropa legalisiert», ist Sutter überzeugt. Eine grosse Mehrheit der Bevölkerung in den Ländern Westeuropas unterstütze das Recht auf Sterben von Menschen, die unheilbar krank sind. Nach Angaben von Sterbehilfe-Aktivisten unterstützen in Deutschland und Grossbritannien vier von fünf Befragten ein Recht auf Sterbehilfe.

Die rund 200 Fälle von Sterbehilfe für Menschen, die dafür aus dem Ausland in die Schweiz reisen, tendieren dazu, für viel Aufregung zu sorgen. Wie bei den begleiteten Suiziden von Menschen, die in der Schweiz leben, geht es aber um verhältnismässig wenig Fälle. Und es geht um entschlossene, tapfere Menschen, viele darunter befinden sich in einer Verfassung, die auch Palliativ-Care-Fachleute ratlos lassen.

«Es gibt Grenzen», sagt Weber. «einige Leute haben qualvolle, chronische Schmerzen im Rücken oder in den Nerven, die so diffus sind, dass sie nicht behandelbar sind.»

Für unheilbar kranke Patienten mit unerträglichen Schmerzen ist Palliativpflege die letzte Option. Mit palliativer Sedation können sie soweit beruhigt werden,  dass sie anästhesiert sind und möglicherweise im Schlaf sterben. Das ist allerdings keine Option, wenn jemand wach und bei Verstand bleiben will.

«Für Patienten, die bei vollem Bewusstsein und Selbstkontrolle bleiben wollen, sind sehr starke Schmerzmittel und Sedation keine Lösung», sagt Weber. «In diesen seltenen Fällen stossen wir an Grenzen. Für diese kann begleitete Sterbehilfe der richtige Weg sein.»

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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