Bern entschuldigt sich bei Verdingkindern
Bern ist der erste Kanton, der sich bei den Tausenden von Verdingkindern entschuldigt, die bis in die 1960er-Jahre auf Bauernhöfen unbezahlte Arbeit verrichten mussten. Laut einer Studie wurden die Kinder regelmässig misshandelt.
Die von der Universität Basel durchgeführte Studie wurde von der Berner Kantonsregierung im Jahr 2006 in Auftrag gegeben. Unter dem Titel «Die Behörde beschliesst – zum Wohl des Kindes?» ist sie nun als Buch erschienen.
Die Praxis, Waisenkinder oder Kinder aus armen Familien bei anderen Familien zu platzieren, war vor allem im bernischen Emmental und im Simmental weit verbreitet.
Ein Team von Historikern, Anwälten und Soziologen untersuchte die rechtliche Situation der damaligen Verdingkinder und befragte mehr als 300 Zeitzeugen.
«Von der Armut betroffene Familien meldeten sich bei ihrer Heimatgemeinde und ersuchten um Hilfe. Je nach Situation entschied sich die Gemeinde für finanzielle Hilfen oder dafür, die Familie aufzuteilen», sagt Loretta Seglias, eine der Autorinnen der Studie gegenüber swissinfo.ch.
Traumatische Erlebnisse
«Die Behörden hatten das Recht, Kinder von der Familie zu trennen, sie unter Vormundschaft zustellen und in einer andern Familie zu platzieren», so Seglias. Die Landwirtschaft hatte ein grosses Bedürfnis nach billigen Arbeitskräften. Auch aus Waisenhäusern wurden Kinder weggenommen und bei Bauernfamilien platziert.
Bis zum Zweiten Weltkrieg funktionierte dieses System ohne genaue Regelungen. Erst später brauchten die Pflegefamilien eine Bewilligung, damit sie Pflegekinder aufnehmen konnten.
Die Behörden erachteten die Platzierungen gemäss der Studie als üblich und legitim. Für sie und auch für die Eltern waren sie ein Mittel, um der Armut zu begegnen. Für die Betroffenen jedoch war die Fremdplatzierung häufig ein traumatisches Erlebnis.
Sie wurden zudem vielfach diskriminiert, wie Bedienstete und nicht als Familienmitglieder behandelt und oft auch misshandelt. Die Forscher kommen aufgrund der Interviews mit ehemaligen Verdingkindern zum Schluss, dass diese sich oft einsam und machtlos fühlten, traumatisiert waren und Angst hatten.
Von der Familie ausgeschlossen
Der jetzt 74-jährige Berner Roland Begert war damals ein Verdingkind. Seine Kindheit verbrachte er in einem Kinderheim. Als 12-Jähriger wurde er bei einem Bauern untergebracht. Das Schlimmste sei nicht die harte Arbeit gewesen, sondern das Ausgeschlossensein vom Familienleben, von den Festen wie Weihnachten oder Ostern und die fehlenden Spielkameraden.
Begert, der über sein Leben einen Roman geschrieben hat, glaubt, dass die offizielle Entschuldigung für einige der damaligen Verdingkinder einen gewissen Wert habe, nicht aber für ihn: «Sie kommt von Leuten, die diese Zeiten nicht erlebt haben und zum Teil damals noch nicht einmal geboren waren. Das bringt mir nichts», sagt er gegenüber swissinfo.ch.
Anderer sozialer Kontext
Der Berner Justizdirektor Christoph Neuhaus sagte in seiner Rede anlässlich der Buchvernissage, er hoffe, die Entschuldigung, die er im Namen des Kantons Bern ausgesprochen habe, habe für die Opfer eine gewisse Bedeutung. «Es war sehr bewegend zu erleben, wie die Leute zu mir kamen und sagten, dass ihnen die Entschuldigung viel bedeute», so Neuhaus.
Begert sagt, dass er trotz seiner negativen Erfahrungen auch an die schwierigen sozialen Verhältnisse dieser Zeit denke und mittlerweile seiner Gastfamilie vergeben habe: «Alles muss im sozialen Kontext dieser Zeit betrachtet werden. Damals galt das als selbstverständlich. Es gab nur einzelne kritische Stimmen. Zudem gab es auch Gastfamilien, welche für die Verdingkinder ihr Bestes gaben.»
Junge Generation im Visier
Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahre, die Modernisierung der Landwirtschaft und der wachsende Stellenwert der Kinder in der Gesellschaft haben dazu geführt, dass die Praxis der Fremdplatzierung von Kindern aufgehoben wurde.
Begert denkt, eine objektive historische Forschung zu dieser Zeit sei wichtiger als offizielle staatliche Entschuldigungen: «Wenn das alles in den Geschichtsbüchern steht, kann die junge Generation nachlesen, was damals passierte. So wird sie für das Thema sensibilisiert.»
Schon aus dem Mittelalter sind Praktiken bekannt, wonach Kinder aus armen Familien oder unehelichen Beziehungen fremdplatziert wurden.
Besonders häufig kamen diese Kinder in Bauernfamilien. Die Gemeinden gaben den Landwirten einen Beitrag für Kost und Logie der Kinder, die in der Regel schwere Arbeiten verrichten mussten.
Noch bis ins 19. Jahrhundert gab es richtige Märkte und Versteigerungen, an denen die Kinder an den Meistbietenden verkauft wurden.
Im Kanton Luzern wurden diese Versteigerungen im Jahr 1856 verboten.
Neben finanziellen (die Gemeinden wollten Sozialhilfe sparen) gab es auch moralische Aspekte für diese Praxis. Die Behörden waren überzeugt, dass die Kinder in «intakten Pflegefamilien» eine bessere Erziehung erhielten.
Verdingkinder wurden bis in die 1960er-Jahre in Heimen und Familien platziert. Die Praxis wurde aufgegeben, weil sich die öffentliche Moral gewandelt hatte, aber auch weil in den landwirtschaftlichen Betrieben die Nachfrage nach diesen billigen Arbeitskräften zurückging.
Offizielle Statistiken zu den Verdingkindern existieren nicht. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1920 und 1960 rund 100’000 Kinder verdingt wurden.
(Übertragung aus dem Englischen: Andreas Keiser)
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