Der Planet steht vor dem Abgrund
Eine von acht noch existierenden Arten ist in nächster Zeit vom Aussterben bedroht: Der Welt-Biodiversitätsrat hat Alarm ausgelöst. Ein Gespräch mit dem Schweizer Experten, der an der Erstellung des ersten globalen Berichts zur Biodiversität beteiligt war.
«Die Natur geht weltweit in einem in der Geschichte der Menschheit noch nie gesehenen Tempo zurück, und das Aussterben der Arten nimmt zu. Dies hat bereits schwerwiegende Auswirkungen auf die menschliche Bevölkerung weltweit», heisst es im Bericht der Zwischenstaatlichen wissenschaftlichen und politischen Plattform für Biodiversität und Ökosystem-DienstleistungenExterner Link (IPBES). Die Zusammenfassung des BerichtsExterner Link wurde am Samstag in Paris von Delegierten aus 140 Ländern genehmigt.
Die mehr als 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die am Bericht mitgearbeitet haben, ziehen eine dramatische Bilanz. Über eine Million Tier- und Pflanzenarten von insgesamt etwa acht Millionen lebenden Arten laufen Gefahr, durch menschliche Aktivitäten zu verschwinden. Seit 1900 ist der durchschnittliche Bestand an lokalen Arten in den meisten grossen Lebensräumen der Erde um mindestens 20% zurückgegangen.
Dieses kolossale Aussterben geht Hand in Hand mit der rasanten Verschlechterung der Ökosysteme. Seit 1992 haben sich die städtischen Gebiete verdoppelt. Zwischen 1980 und 2000 wurden 100 Millionen Hektar Tropenwald abgeholzt, etwas weniger als die Fläche von Frankreich, Italien und Grossbritannien zusammen. Und die Liste könnte noch weitergeführt werden.
Biodiversität schützen
Der Begriff «Biodiversität» bezieht sich auf die vielen Facetten des Lebens auf der Erde, den Reichtum an Tier- und Pflanzenarten, die genetische Vielfalt innerhalb der Arten und die verschiedenen Arten von Lebensräumen.
Am 22. Mai wird der Welt-Tag der BiodiversitätExterner Link gefeiert. Im Rahmen der Initiative «Mission B»Externer Link lädt die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR, der swissinfo.ch angehört, die Bevölkerung ein, im Garten oder auf dem Balkon neue Naturräume zu schaffen.
Drei Viertel der Landflächen und zwei Drittel der Meere wurden durch menschliche Eingriffe erheblich verändert. Der Zerfall der biologischen Vielfalt gefährdet ernsthaft die Leistungen, welche die Natur für den Menschen erbringt, von der Bestäubung bis zum Schutz der Küsten vor Erosion, von Wirkstoffen in der Medizin bis zu den Auswirkungen auf die Luftqualität.
Andreas Heinimann, stellvertretender Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt und Dozent am Geographischen Institut der Universität Bern, ist einer der Autoren des Berichts.
swissinfo.ch: Wissenschaftler warnen seit über 40 Jahren vor dem Aussterben der Arten. Was ist neu im IPBES-Bericht?
Andreas Heinimann: Neu ist erstens der Prozess. Hunderte von Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern und Disziplinen haben zusammengearbeitet, im Wissen, dass sie im IPBES Regierungsdelegierten gegenüberstehen werden. Das bietet die Möglichkeit, Wissen in politische Massnahmen umzusetzen.
Zweitens versucht der Bericht nicht nur, die unbestritten der Natur innewohnenden Werte zu unterstreichen, sondern auch die Leistungen zu berücksichtigen, welche die Natur dem Menschen bietet, ihren Beitrag zu unserer Lebensqualität.
swissinfo.ch: Der Bericht enthält eine Vielzahl von Informationen über den Zustand der weltweiten biologischen Vielfalt und über die Ursachen und die zu ihrer Erhaltung zu ergreifenden Massnahmen. Was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Botschaft?
A.H.: Ich würde sagen: Heute reicht es nicht mehr aus, kleine Anpassungen am System vorzunehmen. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig. Das ist der alarmierende Aspekt des Berichts, denn wir alle wissen, dass eine solche Veränderung im Widerspruch zu den Interessen vieler Akteure steht, die vom Status quo profitieren.
swissinfo.ch: Sie gehen als Wissenschaftler einen unüblichen Weg. Sie beschreiben nicht nur ein Problem, sondern formulieren auch Forderungen. Ist das nicht problematisch?
A.H.: Ich muss Ihnen eine persönliche Antwort geben, die meine Arbeitsweise widerspiegelt: Ich glaube, dass die Wissenschaft Stellung beziehen muss. Sie kann sich nicht im Keller verstecken. Wir brauchen eine «transformative Wissenschaft» für nachhaltige Entwicklung, eine Wissenschaft, die sich mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinandersetzt und sich der Gesellschaft stellt.
Es geht nicht darum, politische Positionen einzunehmen. Die Wissenschaft muss auf fundierten Fakten beruhen, aber wenn sie in ihrem Bemühen, Wissen zu generieren, mit den beteiligten Akteuren in einen Dialog tritt, dann kann sie auch einen Wandel auslösen.
swissinfo.ch: Die im Bericht beschriebene Situation erscheint dramatisch, auch wenn betont wird, dass es noch Handlungsspielraum gebe. Befinden wir uns also noch nicht an einem Punkt ohne mögliche Umkehr?
A.H.: Es gibt Gründe zur Hoffnung. Die Politik kann Veränderungen bewirken. Nehmen wir das Beispiel des Gewässerschutzes in der Schweiz in den 1990er-Jahren: Mit relativ einfachen Instrumenten ist es damals gelungen, die Wasserqualität deutlich zu verbessern.
Heute ist die Gesellschaft bereit, sich für Umweltfragen zu engagieren, denken Sie nur an die jüngsten Klima-Demonstrationen. Die Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger ist unerlässlich. Auch die Digitalisierung kann eine wichtige Rolle spielen, indem sie beispielsweise die Auswirkungen unseres Konsums transparent macht.
swissinfo.ch: Können Sie einige konkrete Massnahmen nennen?
A.H.: Beispielsweise müssen Subventionen für umweltschädliches Verhalten abgeschafft und grundsätzlich neue Anreiz Systeme entwickelt werden. Da es um unsere Lebensgrundlage geht, müssen die Interessen der Gemeinschaft Vorrang vor den privaten Interessen jener haben, die vom Status quo profitieren.
In der Wirtschaft gibt es auch positive Ansätze, wie etwa nachhaltige Anlagestrategien mit sozialen Auswirkungen («Impact Investment») und die Kreislaufwirtschaft. Und auf individueller Ebene müssen wir darauf hinarbeiten, den Konsum zu senken und bewusster zu machen.
swissinfo.ch: Wie steht es um die Biodiversität in der Schweiz?
A.H.: In der Schweiz liegt der Anteil der gefährdeten Arten über dem globalen Durchschnitt. Die Hauptursachen sind bekannt: Infrastruktur und Landwirtschaft. Es ist eigentlich eine paradoxe Situation. Wir wissen, was zu tun ist. In der Landwirtschaft wären die Direktzahlungen des Bundes an die BauernExterner Link ein Instrument zur Förderung einer nachhaltigeren Produktion. Doch es fehlt am politischen Willen.
Die Schweiz hat auch im Ausland einen grossen Einfluss auf die Biodiversität. So befinden sich mehr als 70% der für den Schweizer Konsum genutzten Flächen im Ausland. Das ist eine grosse Verantwortung. Wir brauchen Transparenz und Handelsregeln. Aber das erfordert Druck von der Gesellschaft.
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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