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Brustkrebskranke in Kenia: Stigmatisiert, ausgegrenzt, dem Tod geweiht

Lucia Syokau Muli
Lucia Syokau Muli hat eine aggressive Form von Brustkrebs. Sie muss kämpfen, dass sie das möglicherweise lebensrettenden Roche-Medikament Herceptin erhält, das in den reichen Ländern seit einem Vierteljahrhundert verfügbar ist. Trent Kamau

Lucia Syokau Muli, 27 Jahre, Mutter einer Tochter, Betreiberin eines Secondhand-Ladens und an einer aggressiven Form von Brustkrebs erkrankt. Für die elegante und selbstbewusste Frau aus dem Süden Kenias ist die Diagnose praktisch das Todesurteil. Obwohl sie gut verdient, ist für sie die Behandlung mit dem rettenden Medikament, das seit 25 Jahren auf dem Markt ist, unerschwinglich.

«Die Leute denken, ‹wenn wir dich behandeln, stirbst du am Ende des Tages doch›, also vernachlässigen sie dich und ignorieren dich, damit du dich um dich selbst kümmerst», sagt Lucia Syokau Muli, eine alleinerziehende Mutter eines fünfjährigen Mädchens, zu swissinfo.ch.

Die junge Frau steht vor der lilafarbenen Tür der Krebsklinik des Bezirksspitals Makueni, etwa drei Autostunden von Nairobi entfernt. «Es ist, als ob ich auf dieser Reise allein wäre.»

Lucia Mulis elegantes, selbstbewusstes Auftreten in weisser Bluse und getönter Sonnenbrille täuscht darüber hinweg, dass sie um ihr Leben kämpft.

Alles begann damit, dass ein Arzt bei einer routinemässigen Vorsorgeuntersuchung einen verdächtigen Knoten in ihrer rechten Brust entdeckte. Tests ergaben, dass sie an einer aggressiven Form von Brustkrebs leidet.

«Ich war am Boden zerstört. Mir war sogar danach, den Arzt zu ohrfeigen. Ich konnte es nicht glauben», sagte die junge Mutter. In ihrem Leben hatte sie zuvor noch nie jemanden mit Krebs getroffen.

Lucia
Lucia Syokau Muli nach ihrfer Chemotherapie. Lucia Muli

Das war vor zwei Jahren. Seither hat sie die körperliche und emotionale Belastung einer Chemotherapie und einer schmerzhaften Operation ausgehalten, bei der die Brustdrüse entfernt wurde.

Aber ebenso traumatisch war die finanzielle Belastung, die immer noch wie eine dunkle Wolke über ihrem Leben schwebt. Obwohl die staatliche Krankenversicherung Kenias, die monatlich etwas über vier Schweizer Franken kostet, die meisten Behandlungen abdeckte, musste Muli ihr Sofa und weitere Sachen verkaufen.

Denn die diagnostischen Tests sowie Transport und Unterkunft für die einmonatige Chemotherapie in der Hauptstadt Nairobi waren nicht von der Versicherung abgedeckt.

Und das war erst der Anfang. Gavin Orangi, der behandelnde Klinikleiter, verschrieb ihr ein Krebsmedikament namens Trastuzumab, das der Schweizer Pharmamulti Roche 1998 unter dem Namen Herceptin auf den Markt gebracht hatte. Der Wirkstoff greift die Rezeptoren an, die dafür sorgen, dass die bösen Krebszellen schnell wachsen.

Die staatliche Versicherung deckt nur vier der empfohlenen 18 monatlichen intravenösen Injektionen des Medikaments ab. Eine einzelne Behandlung kostet bis zu 1100 Schweizer Franken – fast das Dreifache dessen, was Muli in einem guten Monat in ihrem Geschäft für Secondhand-Kleider verdient.

Obwohl ihr Verdienst über dem Durchschnittseinkommen in der Provinz Makueni liegt, sucht sie verzweifelt nach Möglichkeiten, um die restlichen 14 Behandlungen zu bezahlen.

Mit ihrem Problem ist Muli nicht allein. In Kenia steigt die Zahl der Brustkrebsfälle rapide an – aufgrund der Genetik, der veränderten Lebensweise und der verbesserten Diagnose. Dies nach Jahren, in denen HIV und andere Infektionskrankheiten im Fokus der Gesundheitspolitik gestanden hatten.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Vor 2020 gab es in der südkenianischen Provinz, in der fast eine Million Menschen leben, keine Möglichkeiten zur Krebsbehandlung.

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Brustkrebs ist im heutigen Kenia mit fast 7000 neuen Fällen pro Jahr die häufigste Krebserkrankung. Aber angesichts von lückenhaften Vorsorgeuntersuchungen und dem Fehlen eines nationalen Krebsregisters gehen Ärzt:innen von viel höheren Zahlen aus.

In den reichen Ländern hat Trastuzumab die Überlebenschancen bei Brustkrebs in den letzten 25 Jahren dramatisch erhöht. In Kenia dagegen ist das Medikament für die meisten betroffenen Frauen ein Vierteljahrhundert später immer noch unerschwinglich. Für die betroffenen Kenianerinnen ist die Diagnose Brustkrebs immer noch praktisch gleichbedeutend mit dem Todesurteil.

Denn bei den meisten Erstpatient:innen ist der Krebs bereits so weit fortgeschritten, dass der Tumor auf dem Oberkörper die Haut bereits durchdrungen hat und eine sichtbare Wunde bildet. In vielen Fällen hat die bösartige Krankheit bereits die Knochen, die Lunge oder die Wirbelsäule erfasst, so dass die Erkrankten kaum noch gehen können.

«Es ist sehr selten, dass eine Patientin mit einem kleinen Knoten kommt», sagt Lucy Najala Wabende, Masterstudentin im Bereich öffentliche Gesundheit in der Krebsklinik, in der auch Lucia Syokau Muli behandelt wird.

Der Kaufpreis von Herceptin, dem Markennamen von Roche für Trastuzumab, ist seit der Markteinführung des Medikaments 1998 umstritten. Das Schweizer Unternehmen aus Basel hatte jahrelang eine Monopolstellung inne, die es ihm ermöglichte, den Preis zu bestimmen.

Herceptin wurde zu einem der drei umsatzstärksten Medikamente von Roche und erzielte mehrere Jahre in Folge einen Jahresumsatz von rund sechs Milliarden Franken.

Sowohl Südafrika als auch Indien führten einen langen Kampf mit Roche, um den Preis zu senken und der Konkurrenz den Markteintritt zu ermöglichen. Obwohl das Basler Unternehmen in diesen Ländern preisgünstigere Versionen anbot, waren die Kosten für eine breitere Anwendung immer noch zu hoch.

Im Februar dieses Jahres empfahl die südafrikanische Wettbewerbskommission, das Unternehmen wegen «mutmasslich überhöhter Preise» strafrechtlich zu verfolgen, da die Preisgestaltung von Roche «eine Verletzung grundlegender Menschenrechte» darstelle.

Dies weil Frauen, die an Brustkrebs leiden, der Zugang zum lebensrettenden Medikament verwehrt bliebe. Roche hat gegenüber verschiedenen Medien erklärt, dass das Unternehmen sich bemühe, einen möglichst breiten Zugang zu seinen Medikamenten zu gewährleisten.

Ein Grund dafür sei, dass «viele Menschen die Symptome nicht kennen und daher einen Knoten einfach ignorieren, oder sie suchen aufgrund ihrer religiösen oder kulturellen Einstellungen Hilfe bei einem Kräuterspezialisten», so Wabende.

Für Frauen ist die Situation oft noch schlimmer, weil sie von ihren Ehemännern abhängig sind, wenn es um Geld oder den Transport ins Krankenhaus geht. All dies führt zu Verzögerungen bei der richtigen Diagnose.

Besonders besorgniserregend ist, dass in Kenia viele Patientinnen an aggressiven Formen von Brustkrebs leiden. Wabende schätzt ihren Anteil auf 30%, im Vergleich zu etwa 20% der Brustkrebspatientinnen weltweit. Alarmierend: 95% aller Frauen mit aggressivem Brustkrebs, welche die Klinik aufsuchen, weisen bereits Metastasen in anderen Körperteilen auf.

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Für sie ist Trastuzumab die letzte Hoffnung. Studien zeigen, dass das Medikament in Kombination mit einer Chemotherapie vielen Patientinnen mit bisher unheilbarem Brustkrebs, hilft, dass sie fünf oder mehr Jahre länger leben.

«Vor Trastuzumab war aggressiver Krebs eine schlechte Nachricht», sagt Benjamin Anderson, ein auf Brustkrebs spezialisierter Chirurg, der bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Global Breast Cancer Initiative leitet. «Trastuzumab hat das auf den Kopf gestellt. Damit lassen sich Ergebnisse erzielen, die in der Vergangenheit als unmöglich galten.»

Trastuzumab war eine der ersten Krebstherapien, die auf die Treiber des Tumorwachstums abzielten. Seit 2015 ist es auf der WHO-Liste der unentbehrlichen Arzneimittel, was bedeutet, dass es in allen Gesundheitssystemen zum Mindeststandard der medizinischen Versorgung gehört.

Obwohl in den letzten zehn Jahren neue Medikamente auf den Markt gekommen sind, ist Trastuzumab nach wie vor die weltweite Standardtherapie gegen aggressiven Brustkrebs.

Lange Wartezeit

Als das Medikament auf den Markt kam, sei es wegen seines Preises «unerschwinglich» gewesen, sagt Nicholas Abinya, Onkologe am Nairobi Hospital, der seit mehr als 30 Jahren Krebspatient:innen behandelt. Seit die Patente von Roche für Herceptin vor einigen Jahren ausgelaufen sind, sind mehrere von den US-Behörden zugelassene Nachfolgeprodukte auf den Markt gekommen. Trotzdem sind die Preise sind nur langsam gesunken.

Da rund 70% der Menschen in Kenia keine Krankenversicherung haben, beginnen viele Brustkrebspatientinnen gar nicht erst mit der Behandlung – sie können sich eine solche schlicht nicht leisten.

Solche wie Muli schliessen nur die Behandlung ab, die von der Versicherung übernommen wird. Eine Umfrage von Lucy Najala Wabende und ihren Kolleg:innen unter den Patientinnen der Klinik ergab, dass nur 33% der Patientinnen mit aggressivem Brustkrebs alle 18 Behandlungen von Trastuzumab abgeschlossen haben. Von diesen hielten sich nur die Hälfte an das empfohlene Dosierungsschema.

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A child sits looking up at a doctor who is examining them.

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«Sobald die Patient:innen ihre Versicherungsdeckung ausgeschöpft haben, sehen wir sie in der Regel nicht mehr wieder», sagt der Arzt Naftali Busakhala, der vor fast zehn Jahren das Krebszentrum am Kreisspital in Makuena aufbaute, gegenüber swissinfo.ch. «Modellstudien zufolge sterben die meisten dieser Patient:innen.» Viele versuchten, Spenden zu sammeln, indem sie Freunde und Familie um Geld bitten würden, aber das funktioniere nicht, sagte er.

Hohe, unerschwingliche Medikamentenpreise seien einer der Gründe, warum die Patient:innen mit so viel Stigmatisierung und Ablehnung durch die Gesellschaft konfrontiert seien, sagen die Ärzt:innen.

Während swissinfo.ch im Juni in Kenia war, unterzeichnete Roche einen Fünfjahresvertrag mit dem Gesundheitsministerium über die Bereitstellung von Herceptin (Trastuzumab) zu einem Preis, der es laut nationaler Krankenversicherung ermöglicht, alle 18 Behandlungszyklen abzudecken.

Entscheidungen über Leben und Tod

Die Situation in Kenia sei kein Einzelfall, sagt Anderson von der WHO. «Das grösste Problem, das wir in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen sehen, ist, dass die Behandlung aus Kostengründen nicht abgeschlossen wird.»

Dies stellt die Ärzt:innen vor das Dilemma von Leben und Tod, statt dass sie helfen können: Sie wissen um die lebensrettende Behandlung, aber die Kosten stürzen die Patient:innen in die Armut.

«Wenn die Versicherung nur für vier Behandlungszyklen aufkommt, was soll man dann tun?», fragt die Onkologin Jackline Majuma Makokha, die in einem Krankenhaus im Westen Kenias arbeitet. «Das ist ein moralisches Dilemma, und es bricht uns Ärzt:innen das Herz.»

Gavin Orangi fügt hinzu, dass der hohe Preis zu Problemen bei der Verfügbarkeit führt, da kleinere Kliniken wie jene in Makueni mit begrenzten Budgets jeweils nur einen Teil der Behandlung kaufen können, bis sie von der Versicherung oder den Patient:innen eine Erstattung erhalten.

Muli konnte einen Freund davon überzeugen, sie als seine Ehefrau auszugeben, damit sie vier weitere Behandlungsdosen von Trastuzumab erhielt. Dann folgten Monate des Wartens bis zur nächsten «Versicherungsrunde», die im August begann. Doch nach zwei Behandlungen wurde ihr mitgeteilt, dass der Klinik in Makueni das Medikament ausgegangen sei und sie ihre nächste Infusion verschieben müsse. Muli geht es zwar gut, aber es ist unklar, was diese Unterbrechungen und Behandlungspausen für ihren Krankheitsverlauf respektive die Genesung bedeuten.

Seit das Patent des Medikaments 2014 in Europa und 2019 in den USA ausgelaufen ist, sind zwar Nachfolgeprodukte auf den Markt gekommen, aber die Probleme bleiben bestehen. Im Gegensatz zu allgemeinen Generika sind die so genannten Biosimilars, also Kopien von biologischen Arzneimitteln, komplizierter herzustellen und müssen strenge Qualitätstests durchlaufen, um von den US-amerikanischen und europäischen Zulassungsbehörden grünes Licht zu erhalten.

Eine weitere Herausforderung sind die Verfügbarkeit und die Kosten von Tests, mit denen festgestellt werden kann, ob jemand die aggressive Krebsart hat.

Beitrag mit Unterstützung von Mercy Murugi, Filmproduzentin in Kenia; Bildredaktion: Helen James; Redaktion: Nerys Avery.

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