Wenn Zuckerbäckerei und Kunst Hand in Hand gehen
In Perugia sind Carla Schucani und ihre süssen Köstlichkeiten eine echte Institution. Doch die gebürtige Bündnerin hat sich auch einen Namen mit ihren Gemälden gemacht. Ein Treffen mit dieser 85-Jährigen, die immer alles nach ihrem Kopf machte und dabei den Geist eines jungen Mädchens bewahren konnte.
«Und ich empfehle Ihnen, keine Fehler zu schreiben.» Es ist ein Satz, den man nicht erwarten würde von einer Person, die ihr Leben der Kreation von Süsswaren und Haute Cuisine gewidmet hat, welche die Gaumen in Mittelitalien und dem Rest Europas erweicht und erfreut haben.
Malerin, Zuckerbäckerin, Schmuckdesignerin, Illustratorin: Carla Schucani steht für 85 Jahre Stolz, Unabhängigkeit und Offenheit. Bereits mit 19 Jahren hatte sie die erste Ausstellung ihrer Gemälde in Rom. Es folgten Ausstellungen ihrer Werke in Zürich, Basel, Treviso, Perugia und Chur.
Legende sind ihre unwiderstehlichen Confiserie-Kreationen. Präsidenten der Republik wie Carlo Azeglio Ciampi und Giovanni Leone haben nach ihren gastronomischen Werken verlangt. Die Einwohner Perugias und Touristen, welche die Stadt besucht haben, bewunderten schon mit offenem Mund ihre Kreationen in der Vitrine der historischen Konditorei Sandri.
«Wir haben Empfänge in den Häusern erfunden, das Banketting», sagt Schucani, die von allen «Signorina» gerufen wird. «Nennen Sie es aber um Himmels willen nicht Catering!», betont sie.
Eigentlich kein Kind der Kunst
Aber gehen wir ein paar Schritte zurück. 1860, nach der Vereinigung Italiens, liess sich ihr Ur-Urgrossvater, ein erfahrener Engadiner Kaufmann, in Perugia nieder. Er war verzaubert von den sanften Hügeln und den Geschäftsmöglichkeiten der Region im Landesinnern, auf halber Strecke zwischen Florenz und Rom.
In seiner Gemischtwarenhandlung verkaufte er Gewürze sowie kostbare Kerzen und stellte Liköre und Kekse her. Mit der Zeit wurde die Pasticceria Sandri zum Herzen der Patisserie- und Confiserie-Kunst im historischen Stadtzentrum. Doch erst mit Carla Schucani wurde das Geschäft in ganz Mittelitalien bekannt.
Warum «Sandri»?
Anfang des 19. Jahrhunderts kämpfte die von Jachen Schucan (Italianisiert: Giacomo Schucani) gegründete Pasticceria ums Überleben. Schucanis Kinder waren noch nicht erwachsen (ein Sohn war als Kind gestorben), und die Gläubiger sassen ihm im Nacken.
Zu jenem Zeitpunkt kam Giacomo ein entfernter Bündner Onkel zu Hilfe. Nicola Zonder arbeitete bereits in Italien und schaffte es, das Geschäft zu retten. Guglielmo Schucani (der Vater von Carla) übernahm, einmal erwachsen, das Geschäft seines Grossonkels und änderte den Namen der Pasticceria. Zu Ehren des Grossonkels nannte er diese nach dem italianisierten Zonder: Sandri.
Heute wird die Pasticceria von einem jungen Mann aus Perugia betrieben.
«Ich wurde in Perugia geboren, wo ich bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zur Schule ging», erzählt die «Signorina». Mit Schaudern erinnert sie sich an die faschistische Periode während ihrer Schulzeit: «Ich hasste all die Rangabzeichen, die Uniformen, die Märsche.» Trotzig ergänzt sie: «Die italienische Flagge habe ich getragen. Den faschistischen Wimpel aber nicht, da habe ich mich geweigert.»
Die faschistischen Inspektoren mit ihren schwarzen Uniformen sind in ihren Gedanken noch immer präsent: «Die Lehrerin schickte mich sofort zum Bewässern des Kriegsgemüsegartens, aus Angst, dass ich in Schwierigkeiten geraten könnte: Ich hatte bereits ein Foto von Mussolini zerrissen, und die Lehrerin befürchtete, ich könnte dies vor den Inspektoren wiederholen. Als Ausländerin hätte ich wohl schwere Konsequenzen tragen müssen.»
Daheim aber sprach man nicht über Politik: «Wir haben uns nur abends gesehen. Die sonstige Zeit daheim verbrachten wir immer mit dem ‹Frolain› («Fräulein», die Schweizer Gouvernante, N.d.R.), das nicht viel von der italienischen Politik verstand.»
Eine freigeistige Kindheit, also? Schucani antwortet entschlossen und unbekümmert: «Ja klar, ich habe immer gemacht, was mir passte!» Und lachend fügt sie hinzu: «Vielleicht hat es mir deshalb in der Schweiz sofort so gut gefallen.»
Im Engadiner Exil
«Während des Krieges nahmen wir Zuflucht im Engadin. Und als wir zurückgekehrt waren, überzeugte mich die starre Atmosphäre, die ich an der Schule in Perugia verspürte, nach Chur zurückzukehren, um dort das Gymnasium zu beenden.»
War der Unterschied derart gross? «Ja, damals schon. Dort war alles anders, keine erstickenden Regeln, keine Uniformen. Zwar wurde ich auch hier mehrmals bestraft. Doch der Ansatz war anders, flexibler. Eines Tages mussten wir als Strafaufgabe einen Aufsatz zum Thema ‹Faulheit ist…› schreiben. Ich gab ein leeres Blatt ab, ganz unten schrieb ich hin: ‹Das ist Faulheit›. Niemand hat etwas gesagt», lacht sie.
«Eines Tages mussten wir als Strafaufgabe einen Aufsatz zum Thema ‹Faulheit ist…› schreiben. Ich gab ein leeres Blatt ab, ganz unten schrieb ich hin: ‹Das ist Faulheit›.»
Sie beendete das Gymnasium in Chur und kehrte nach Perugia zurück, in die Familienkonditorei Sandri. Und dort erwachte ihre Liebe zur Patisserie und zur Küche, die seit nunmehr 60 Jahren anhält.
Beliebte Schaufenster
Heute ist ihr Geschäft weitherum bekannt für die kreativ gestalteten Schaufenster. «Ich liess mich von Neuigkeiten, Ereignissen, Feiern inspirieren, und dann habe ich etwas erschaffen», erzählt Schucani. Ihre Schaufenster wurden derart berühmt, dass sie in einem Buch gefeiert wurden und seither Fernsehteams aus ganz Europa kommen, um darüber zu berichten.
Die «Signorina» allerdings scheint immun gegen jegliche Andeutungen von Ruhm zu sein. Auch wenn sie im Goldenen Buch von Perugia neben der Familie Spagnoli und deren Süsswaren-Firma Perugina aufgeführt ist. «Perugia hat mich geliebt», kommentiert sie. Eine erwiderte Liebe? «Ich würde sagen, Ja. Ich liebe die Landschaft und die Freiheit, die man hier geniesst.»
Bei ihren Schaufenstern liess sich Schucani immer von ihrer Kreativität leiten, ohne dass sie Entwürfe gemacht hätte. «Ich habe sofort mit dem Material zu arbeiten begonnen», erzählt sie. Unter den vielen Schaufenstern, die in Erinnerung blieben, war eines, in dem sie die getreue Reproduktion eines Gemäldes von Pietro Perugino aus Zuckerguss ausstellte.
«Ich hatte Spass daran, mich in der Nähe der Schaufenster aufzuhalten, um die erstaunten Kommentare der Passanten zu hören, die versuchten, das zu interpretieren, was ich kommunizieren wollte. Ich habe sie gezielt provoziert.»
Ihre Schaufenster wurden auch unzählige Male ausgezeichnet. Sie erinnert sich, dass sie von der Gemeinde Perugia beauftragt wurde, die wichtigsten der zahlreichen Brunnen der Stadt in Zuckerguss nachzubauen. «Ein wichtiges Basrelief des Brunnens der ‹Assetati di Perugia› war gerade restauriert worden, und es wurde an uns geliefert, damit wir es nachbauen können. Wir waren die Ersten, die es auspacken durften. Ich erinnere mich noch, wie mir von Gefühlen überwältigt die Hände zitterten.»
Autodidaktin
Nicht nur in der Patisserie ist Carla Schucani Autodidaktin, sondern auch in der Malerei. Schon als kleines Mädchen schaute sie ihrer Mutter beim Malen über die Schulter. Ihre Gemälde haben einen expressionistischen Charakter. Es ist kein entscheidender Einfluss eines bestimmten Künstlers festzustellen.
Die «Signorina» hat fast alle ihre Werke mit dem Spachtel gemalt. Sie transportieren eine starke, manchmal dramatische emotionale Stimmung, gegenüber der man kaum gleichgültig bleiben kann. Schucani malt keine idyllischen Landschaften, aber auf ihren Leinwänden werden Kontraste und Stimmungen lebendig, die wie ein Lichtblitz, der die Nacht erhellt, auf der Netzhaut zurückbleiben.
«Malen ist ein Dialog», erzählt die Künstlerin. Und was ist mit den Meinungen anderer? «Ich habe immer zugehört. Man muss immer zuhören. Und dann folgt man dem eigenen Kopf. Immer.»
Schweizer Lärchen und italienische Olivenbäume
Auf dem Tisch vor uns liegt ein Brief des Schweizer Konsuls in Italien mit guten Wünschen für ihre 85 Jahre. «Wenn ich in Italien bin, fragen sie mich, was mir von der Schweiz fehle. Die Lärchen, antworte ich. Wenn ich in der Schweiz bin, sage ich, von Italien fehlten mir die Olivenbäume.»
In der Schweiz, wo sie ein Haus besitzt, war Schucani zum letzten Mal vor zehn Jahren. «Dann wurde Maria Vittoria krank, und wir gingen nicht mehr hin.» Ihrer Lebensgefährtin, die vor einigen Monaten verstorben ist, hat sie das jüngste Gemälde gewidmet. Ein leerer Sessel, umgeben von dunklen und intensiven, dramatischen Farben.
«Es gibt nichts, was einen Menschen ersetzen könnte, mit seinen Vorzügen und Mängeln. Es war ein Privileg, mehr als sechzig Jahre mit einer Frau von so hohem intellektuellem und moralischem Wert zusammen leben zu dürfen.» Und haben die Leute nie über ihre Beziehung geredet? «Die Leute hatten nie viel zu sagen dazu. Es war einfach so, und fertig.»
Gibt es etwas, was ihr besondere Freude an ihren essbaren Meisterwerken oder jenen auf Leinwand bereitet? «Schon von klein auf betrachtete ich während der Mathematikstunde an der Kantonsschule in Chur – statt dem Unterricht zu folgen – die Gemälde von Carigiet, die dort aufgehängt waren. Nun habe ich einige meiner eigenen Gemälde der Schule geschenkt.»
Und mit einem rebellischen Mädchenlächeln, das schliesslich in ein Lachen mündet, fügt die «Signorina» an: «Vielleicht gibt es ja heute ein kleines Mädchen, das während der Mathematikstunden meine Bilder anschaut, anstatt dem Unterricht zu folgen.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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