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«Die Juden in der Schweiz haben sich seit der ‹Melnitz-Epoche› stark verändert»

Erfolgsautor Charles Lewinsky. Keystone

Vor 150 Jahren hat die jüdische Bevölkerung der Schweiz mit der Niederlassungsfreiheit dieselben zivilen Rechte erhalten wie die Schweizer Bürgerinnen und Bürger. In seinem Erfolgsroman "Melnitz" schilderte Charles Lewinsky ihre Geschichte als einen Weg voller Hindernisse, Demütigungen und Kämpfe eindrücklich. swissinfo.ch blickt mit dem Zürcher Autor zurück auf eine Geschichte der Schweiz, die kein Ruhmesblatt darstellt.

Der über 700 Seiten starke Roman «Melnitz»Externer Link, 2006 erschienen, folgt der Geschichte der Juden in der Schweiz anhand einer Familie aus dem Kanton Aargau, die Charles LewinskyExterner Link über fünf Generationen hinweg begleitet, nämlich von 1871 bis 1945.

swissinfo.ch: Als 1866 die Jüdinnen und Juden in der Schweiz die bürgerlichen Rechte erhielten, lebten sie im Kanton Aargau, genauer in den beiden Gemeinden Lengnau und Endingen. Weshalb war das so?

Charles Lewinsky: Dafür waren wirtschaftliche und steuerliche Gründe ausschlaggebend. Aber ich muss zuerst eine historische Präzisierung machen: Im Ancien Régime war der Aargau kein Kanton, sondern eine Vogtei. Diese besass nicht dieselben Rechte wie die souveränen Kantone, die den Aargau beherrschten und die an dessen Spitze einen Gouverneur installierten, den Landvogt. Dieser hatte die Juden schlicht nötig. Als Vieh- und Strassenhändler verkauften sie tagsüber ihre Sachen auf den grossen Märkten, und abends mussten sie in ihre Dörfer zurückkehren.

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Gesichter einer schwierigen Ankunft in der Schweiz

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Der zweite Grund waren die Steuern. Der Landvogt hatte eine ganze Palette von Steuern erfunden, welche die Juden entrichten mussten. Die Heirat, der Bau einer Synagoge etwa waren steuerpflichtig. Die Einnahmen steckte er in die eigene Tasche.

swissinfo.ch: «Melnitz» spielt in Endingen und Lengnau. Anhand der Geschichte einer jüdischen Familie beschreiben Sie, wie die rechtliche Gleichstellung notwendige Voraussetzung war für die Integration. Wahr oder falsch?

C.L.: Ich würde es nicht so formulieren. Mein Roman setzt 1871 ein. Damals hatte die Emanzipation bereits stattgefunden, aber die Juden hatten sich noch nicht ‹bewegt›. Denken Sie an einen Vogel, der während Jahren in seinem Käfig eingeschlossen war. Jetzt öffnen Sie das Törchen, aber er bleibt vorderhand noch drin, weil er es sich gewohnt ist, eingeschlossen zu sein.

Was für die Geschichte der Juden in der Schweiz typisch ist: Ihre Berufe. Sie waren Viehhändler, wie Salomon, der ‹Patriarch› der Familie in meinem Roman. Später wurden die Nachkommen etwa Tuchhändler und kamen von da ins Mode-Milieu. Sie kamen auch in Städte wie Baden oder Zürich. Aber es dauerte eine Generation, bis die Juden ihre Berufe erweiterten.

swissinfo.ch: Wenn Sie einen Roman über eine jüdische Familie in der Schweiz des 21. Jahrhunderts schreiben würden, wäre dann noch etwas vorhanden von dieser «Angst vor der Gleichberechtigung»?

C.L.: Es fällt mir schwer zu antworten, denn Sie legen Ihrer Frage die Annahme zu Grunde, dass es nur einen Typus einer jüdischen Familie gibt, jener der ‹Melnitz›. Zur Zeit, in der mein Buch spielt, waren die Juden gezwungen, in derselben Gemeinde zu wohnen, sie hatten dieselben Bräuche, denselben Blick auf die Religion usw. In unserer Zeit gibt es mehrere Arten jüdischer Familien: atheistische, gläubige, traditionalistische, modernistische etc. Wie auswählen angesichts dieser Diversität?

swissinfo.ch: Aber Vorurteile bleiben. Antisemitismus flackert da und dort in Europa immer wieder auf. Leiden Sie als jüdischer Autor darunter?

C.L.: Persönlich nicht. Entspräche der Antisemitismus in der Welt jenem in der Schweiz – die Welt wäre ein Paradies. Ich schrieb vor einigen Wochen einen politischen Artikel für den Tages-Anzeiger. Es gab zahlreiche Reaktionen, in denen ich u. a. als Idiot, verdammter und linker Intellektueller etc. beschimpft worden war. Aber es gab keine einzige antisemitische Attacke gegen mich. Das empfand ich als sehr angenehm und sehe es als positives Zeichen. Das heisst aber wiederum nicht, dass es keinen Antisemitismus gibt. Er existiert, in verschiedenen Formen.

swissinfo.ch: Wie?

C.L.: Ein Beispiel: Ich bin Mitglied der jüdischen Gemeinde Zürich. Vor dem Eingang und auch jenem in die Synagoge muss ich Sicherheitskontrollen passieren. Diese Kontrollen kosten die Gemeinde sehr viel Geld, aber sie sind unverzichtbar. Der Staat aber beteiligt sich finanziell nicht daran. Es ist ein wenig so, als wären wir Juden selbst für unsere Sicherheit zuständig. Verlangt man von Protestanten oder Katholiken, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen?

swissinfo.ch: Antisemitismus ist nicht nur ein Teil der Schweizer Geschichte. Er zeigt sich heute in ganz Europa und ist sogar mit anderen religiösen Konflikten verbunden. Wie reagierten Sie auf die Attentate von Paris von Januar und November 2015?

C.L.: In der Geschichte der Menschheit hat es immer eine religiöse Gemeinschaft gegeben, die für sich in Anspruch nahm, die Wahrheit zu besitzen und diese folglich gegenüber den anderen durchzusetzen. Das ist die schwarze Seite einer jeden Religion. Denn sie bergen die Gefahr in sich, ab einem bestimmten Moment in Fanatismus umzuschlagen. Das bedeutet, dass ein Angriff auf den anderen, weil er Jude, Christ oder Muslim ist, nicht nur religiös begründet ist. Denn Religion ist immer ein sehr guter Vorwand gewesen, um Krieg zu führen. Ich bin aber kein Politiker, und ich habe keine Lösung für diese Probleme. Die Attacken von Paris kann ich nur furchtbar finden.

swissinfo.ch: Bringt sie die beschränkte Toleranz der Menschen zur Verzweiflung?

C.L.: Ich bin kein Optimist. Ich erachte den Menschen als nicht sehr intelligent: Nie hat er aus der Geschichte gelernt. Weshalb also wollen Sie, dass sich das heute ändert?

swissinfo.ch: Möchten Sie zum Schluss eine jüdische Persönlichkeit hervorheben, welche die Geschichte der Schweiz geprägt hat?

C.L.: Nein, das werde ich nicht tun. Ich denke, dass die Geschichte dieses Landes durch die Schweizerinnen und Schweizer gemacht wird. Punkt. Ob sie Katholiken, Juden oder Buddhisten sind, ist mir einerlei. Einen oder zehn zu nennen bedeutet, ein Ghetto zu schaffen. Und genau das will ich nicht.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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