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«Wir müssen den Mut haben, Nein zu Pestiziden zu sagen»

Traktor sprüht Pestizide auf ein Feld
2020 wird das Schweizer Stimmvolk über das Verbot von Pestiziden in der Eidgenossenschaft abstimmen müssen. Keystone / Patrick Pleul

Mals in Italien ist die erste Gemeinde in Europa, die Pestizide verboten hat. Auf Besuch in der Schweiz erklärt Bürgermeister Ulrich Veith die Gründe für das Verbot und wie sich die Realität des Südtiroler Dorfs seit dem historischen Entscheid verändert hat.

Im September 2014 sprach sich MalsExterner Link im Vinschgau als erste Gemeinde in Europa gegen Pestizide aus. In der von Bürgermeister Ulrich Veith einberufenen Volksabstimmung sagten 75% der Stimmbevölkerung des Dorfs mit rund 5200 Einwohnern Ja zu einem Verbot von Düngemitteln und Chemikalien auf ihrem Gebiet.

Ein überraschendes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die Wirtschaft der Gemeinde an der Grenze zur Schweiz und Österreich stark mit der Landwirtschaft, namentlich der intensiven Apfelproduktion, verbunden ist.

«Ein Revolutionär? Nein, ich bin wie viele andere Bürgermeister, die sich um die Gesundheit ihrer Bürger kümmern», sagt Ulrich Veith, den swissinfo.ch anlässlich des Schweizerischen InsektentagsExterner Link in Aarau, Kanton Aargau getroffen hat.

Mels im Vinschgau
Mals, idyllisch gelegen im Vinschgau. Frieder Blickle / IDM

swissinfo.ch: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, in Ihrer Gemeinde Pestizide zu verbieten?

Ulrich Veith: Ich bin seit 2009 Bürgermeister von MalsExterner Link. Nur wenige Monate nach meiner Ernennung stellte ich fest, dass es Probleme zwischen Bio- und konventionellen Bauern gab. Durch den Wind in unserer Region fanden Bio-Milchproduzenten Spuren von Pestiziden im Heu. Das hätte die Bio-Zertifizierung ihrer Produkte gefährden können.

Wir warnten den Südtiroler BauernbundExterner Link. Dieser sagte aber lediglich, das Problem betreffe nur wenige Produzenten und werde sich von selber lösen. Wir gaben aber nicht auf, und fingen an, die Bevölkerung zu informieren, indem wir Experten aus Deutschland einluden.

Wir erkannten, dass Pestizide nicht nur ein Problem für Biobauern sind, sondern höchstwahrscheinlich auch für unsere Gesundheit. Deshalb beschloss ich, eine Abstimmung durchzuführen, um herauszufinden, ob auch die Bevölkerung unsere Ängste teilt.

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swissinfo.ch: In welchem Klima fand die Abstimmung statt?

U.V.: Anfangs gab es keine Spannungen. Aber als der Bauernbund erkannte, dass die Menschen tatsächlich abstimmen werden, begann er, Druck auf sie auszuüben. Er befürchtete, dass andere Gemeinden ebenfalls den Einsatz von Pestiziden in Frage stellen könnten.

Mir wurde gesagt, dass es nicht Sache des Bürgermeisters sei, zu entscheiden, was und wie die Bauern auf ihrem Land anbauen. Ich stimme dem zu. Aber wenn man in Schulen, Kindergärten und öffentlichen Parks Spuren von Pestiziden findet, so wie in Mals, kann ich nicht anders, als einzugreifen. Das Trentino-Südtirol ist übrigens jene Region Italiens, in der die meisten Pestizide eingesetzt werden.

Ausserhalb unserer Gemeinde wollten alle verhindern, dass die Leute zur Abstimmung gehen. Aber als Bürgermeister wollte ich wissen, was die Leute darüber denken, obwohl wir nicht sicher waren, ob wir überhaupt die Kompetenz haben, eine Abstimmung durchzuführen.

swissinfo.ch: Sie haben auch die 16-Jährigen zum Abstimmen bewegt. Warum das?

U.V.: Viele junge Menschen waren bei den Demonstrationen vor der Abstimmung anwesend. Ich denke, dass ein 16-Jähriger reif und informiert genug ist, um sich auszudrücken. Wir sehen das heute bei den Klimastreiks: Junge Menschen sind sehr empfänglich für Umweltfragen.

Ulrich Veith
Ulrich Veith zvg

swissinfo.ch: 75% der Stimmbevölkerung waren für ein Verbot. Haben Sie ein so klares Ergebnis erwartet?

U.V.: Ich erwartete ein Ja, aber nicht in diesem Ausmass. Ich war auch überrascht von der hohen Stimmbeteiligung von fast 70%. Als wir anfingen, über ein Verbot zu sprechen, war das Thema Pestizide in Deutschland, der Schweiz und anderen Teilen der Welt nicht sehr präsent. Im Lauf der Zeit wurde uns klar, dass wir nicht allein waren.

swissinfo.ch: Im Juni 2018 akzeptierte das Verwaltungsgericht in Bozen (TAR) einen Rekurs des Bauernbunds und setzte die Verordnung über das Verbot der Verwendung von Pestiziden in Ihrer Gemeinde aus. Ist das eine Niederlage für die Demokratie?

U.V.: Nein, das würde ich nicht sagen. Es wäre ein Affront gegen die Demokratie gewesen, wenn der Rechnungshof in Bozen mich nicht von dem Vorwurf der Schädigung des öffentlichen HaushaltsExterner Link im Zusammenhang mit der Abstimmung freigesprochen hätte [Bürgermeister Veith war aufgefordert worden, die 24’000 Euro, die für die Abstimmung ausgegeben wurden, zu ersetzen, N.d.R.].

Wir warten gegenwärtig auf einen endgültigen Entscheid des TAR. Aber unabhängig davon glaube ich, dass ich als Bürgermeister andere Schritte unternehmen kann, weil die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger auf dem Spiel steht.

«Wenn die Schweiz Ja zum Verbot sagt, wird das ein Signal an die ganze Welt sein.»

swissinfo.ch: Wie hat sich die Realität von Mals nach der Abstimmung verändert?

U.V.: Viele Kleinbauern haben versucht, einen anderen Weg zu gehen und Gemüse aus biologischem Anbau zu produzieren. Die grosse Veränderung hängt jedoch mit dem Interesse zusammen, das wir weltweit geweckt haben.

Heute kommen viele Menschen nach Mals, um zu erfahren, wie wir uns verhalten haben, oder um uns moralisch zu unterstützen. Auch die lokale Wirtschaft hat davon profitiert, da viele Touristen in unsere Gegend kommen, weil sie von dem, was wir getan haben, fasziniert sind.

swissinfo.ch: Welche Unterstützung haben Sie aus der Schweiz erhalten?

U.V.: Um die Wahrheit zu sagen, haben wir aus der Schweiz nicht viel Unterstützung erhalten. Wir wissen aber, dass die Schweizerinnen und Schweizer auch über das Verbot von Pestiziden abstimmen werden [siehe Box, N.d.R.].

Es wird nicht einfach sein, nicht zuletzt, weil wir die Schwierigkeiten gesehen haben, die in einer kleinen Gemeinde wie der unseren bestehen, geschweige denn in einem ganzen Staat. Ich halte es jedoch für gut, dass die Bevölkerung die Möglichkeit hat, sich zu äussern. Wenn die Schweiz Ja zum Verbot sagt, wird das ein Signal an die ganze Welt sein.

swissinfo.ch: Die Schweiz hat kürzlich zwölf Pestizide verboten, die als hochgiftig gelten. Wäre es nicht genug, die gefährlichsten Stoffe zu verbieten?

U.V.: Es macht keinen Sinn, nur wenige Produkte zu verbieten, denn die Biobauern werden weiterhin Probleme mit der Kontamination haben. Untersuchungen, die im vergangenen Jahr durchgeführt wurden, zeigten, dass Pestizide weit weg von den Feldern nachgewiesen werden können, sogar in den Häusern. Wir können so nicht weitermachen. Wir brauchen eine Wende.

«Es ist möglich, die Dinge zum Wohl von allen zu ändern.»

swissinfo.ch: Wenn alle das Gleiche tun würden wie Ihre Gemeinde, bestünde dann nicht die Gefahr, die Weltbevölkerung dem Risiko der Nahrungsmittel-Knappheit auszusetzen?

U.V.: Ich glaube nicht. Der biologische Landbau hat viele Fortschritte gemacht. Wir können es bei uns sehen: Der biologische Landbau funktioniert. Alle Bauern, die umgestellt haben, arbeiten besser als konventionelle. Es gibt eine Nachfrage auf dem Markt, und die Preise sind höher. Warum also nicht den Wechsel machen?

swissinfo.ch: Sie nehmen am Schweizerischen Insektentag teil. Was ist Ihre Botschaft an die Gemeindepräsidenten und die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz zum Einsatz von Pestiziden in ihrer Gemeinde?

U.V.: Es gibt viele Lügen über Pestizide, und deshalb fordere ich die Gemeindepräsidenten und auch die Bevölkerung auf, sich richtig zu informieren. Es war nicht einfach für mich, wenn ich an all den Druck von aussen denke, an die Gerichte… Aber man muss Kraft und Mut haben. Es ist möglich, die Dinge zum Wohl von allen zu ändern.

Zwei entscheidende Abstimmungen 2020

Zwei Volksinitiativen zum Kampf gegen Pestizide wurden in der Schweiz eingereicht. Die erste, «für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide»Externer Link, will den Einsatz von Pestiziden in der Schweiz sowie den Import von Lebensmitten, die Pestizide enthalten, verbieten. Die zweite, die «Volksinitiative für sauberes Trinkwasser und gesunde Ernährung»Externer Link, fordert, dass keine Direktzahlungen mehr an Bauern ausgerichtet werden, die Pestizide und Antibiotika einsetzen.

Mitte Juni war eine Mehrheit des Nationalrats der Meinung, dass beide Initiativen zu weit gingen, und hat sie ohne Gegenvorschlag abgelehnt. Das Dossier wird nun noch an Ständerat überwiesen. Das Stimmvolk kann nächstes Jahr an der Urne über die zwei Initiativen abstimmen.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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