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Die Pandemie der Langzeit-Arbeitslosigkeit

Arbeitslosen in den Vereinigten Staaten
Hunderte von Arbeitssuchenden stehen vor einem Jobcenter in Kentucky, USA. Reuters / Bryan Woolston

Die Corona-Pandemie hat die Jobchancen stark reduziert. Derweil steigt die Zahl der Langzeitarbeitslosen in vielen Ländern. Eine Zeitbombe, sagen Experten.

Olivier Schopfer hat mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Buchhaltung. Trotzdem ist der Waadtländer seit Dezember 2018 ohne feste Stelle. Nach mehreren subventionierten Temporäreinsätzen wurde er Ende 2019 endlich von einem Treuhänder eingestellt. Doch nur ein Monat nach dem Stellenantritt war bereits wieder Schluss.

Der Grund dafür: Corona. «Die Firma hat viel für Restaurants gearbeitet», sagt der 59-Jährige gegenüber SWI swissinfo.ch. «Als die Krise kam, sagte man mir, dass es einfach nicht mehr möglich sei, mein Gehalt zu zahlen.»

Wie die Schweiz haben viele Länder seit dem Frühjahr 2020 mehr oder weniger strenge Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie verordnet und damit ganze Teile ihrer Wirtschaft auf Eis gelegt. In diesem Klima der Unsicherheit haben viele Unternehmen Neueinstellungen gestoppt. Andere, die sich in unmittelbaren Schwierigkeiten befanden, waren sogar gezwungen, Personal zu entlassen.

Die Arbeitslosenzahlen haben sich in den verschiedenen Ländern unterschiedlich entwickelt – abhängig von den Corona-Massnahmen, den staatlichen Geldern für die Wirtschaft und von der Struktur der Arbeitsmärkte. Doch im Jahresvergleich sind die Arbeitslosenzahlen fast überall gestiegen.

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Die Arbeitslosenquote in der Schweiz ist nach wie vor niedrig, lag aber im Januar auf dem höchsten Stand seit dem Frühjahr 2020 – bei 5% laut der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) und 3,7% nach der engeren Definition des Staatssekretariats für Wirtschaft (SecoExterner Link). Diese berücksichtigt nur Personen, die bei einem Regionalen Arbeitsvermittlungs-Zentrum (RAV) gemeldet sind.

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Und während eine wirkliche Verbesserung der Beschäftigungsaussichten kurzfristig nicht vorstellbar scheint, wächst die Sorge, dass sich diese Phase der hohen Arbeitslosigkeit über Monate oder sogar Jahre hinziehen könnte.

Historisch hohe Langzeit-Arbeitslosigkeit

Artikel in der internationalen Presse berichten über das historisch hohe Niveau der Langzeit-Arbeitslosigkeit Ende 2020: «fast 500.000 mehr Langzeit-Arbeitslose» in DeutschlandExterner Link, +37% innert einem Jahr ÖsterreichExterner Link, +52% in SpanienExterner Link, in FrankreichExterner Link sind drei Millionen Menschen betroffen, «ein nie zuvor erreichtes Niveau».

Arbeitslosigkeit gilt streng genommen erst ab einem Jahr als «Langzeit». Die verfügbaren Daten spiegeln deshalb die Auswirkungen der zweiten Welle noch nicht. Dennoch ist fast überall ein Aufwärtstrend erkennbar – ausser in Griechenland, wo die Arbeitslosenquote bereits vor der Krise enorm hoch war, und in Südkorea, das als Musterschüler im Umgang mit der Pandemie gilt.

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Am stärksten zugenommen haben die Zahlen in den Vereinigten Staaten und in Kanada. Für diese Länder liegen aktuellere Daten vor, die zeigen, dass sich der Anstieg fortgesetzt hat: Im vierten Quartal 2020 erreichte der Anteil der Personen, die mindestens sechs Monate lang arbeitslos waren, in den USA 2,8% und in Kanada 2,2% der Erwerbspersonen.

In der Schweiz waren laut Bundesamt für Statistik im vierten Quartal 2020 89’000 Menschen langzeitarbeitslos, 22’000 mehr als ein Jahr zuvor. Im Mittel waren gemeldete Personen seit 234 Tagen arbeitslos, ein Jahr zuvor waren es 215 Tage.

Gemäss der neusten ErhebungExterner Link des Seco waren im Januar 2021 30’700 Personen seit mindestens einem Jahr bei einem Arbeitsamt gemeldet, was einer Zunahme von 119% gegenüber dem Vorjahr entspricht. Auch ihr Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitssuchenden ist gestiegen.

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Kurzarbeit hielt den Anstieg in Grenzen

Laut Rafael Lalive, Wirtschaftsprofessor an der Universität Lausanne, deuten die Zahlen darauf hin, dass die Langzeit-Arbeitslosigkeit in den kommenden Monaten weiter steigen könnte. Immerhin sagt er aber auch: «Die Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt war bisher nicht so explosiv wie befürchtet.»

In Europa scheint bisher vor allem eine Massnahme erfolgreich gewesen zu sein, den Verlust von Arbeitsplätzen zu begrenzen: die KurzarbeitExterner Link. Sie besteht darin, dass Unternehmen Lohnsubventionen erhalten, wenn Sie Angestellte vorübergehend freistellen und nicht entlassen.

Mehr als 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz und 32 Millionen in Europa, also fast ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung, profitierten in der ersten Welle im Frühling 2020 von Kurzarbeit. Im November waren es in der Schweiz noch immer fast 300’000 Menschen. Allerdings werde so ein Teil der Arbeitsplätze «künstlich» aufrechterhalten und ein Ausstieg werde schwierig, prognostiziert die französische Zeitung «Le Figaro».

In den Vereinigten Staaten und Kanada, wo es das Mittel der Kurzarbeit nicht gibt, nähert sich die Langzeit-Arbeitslosigkeit dem Rekordniveau, das während der letzten Rezession im Jahr 2010 verzeichnet wurde.

«Mission impossible» Stellensuche

Kämpferisch sieht Olivier Schopfer das Coronavirus als «Rückschlag» und versichert, dass die Zahl der Stellenangebote in seinem Bereich nicht abgenommen habe. In vielen Branchen ist der Arbeitsmarkt jedoch ausgetrocknet: Detailhandel, Tourismus, Gastronomie, Industrie.

Ein aktueller Bericht des Westschweizer Fernsehens lässt zum Beispiel einen Uhrmacher und einen Industriemanager zu Wort kommen. Einen Job in ihrem Bereich zu finden, sei «fast eine Mission impossible» geworden, beklagen sie.

«Die Arbeitslosen, mit denen wir sprechen, haben mehrere Erklärungen für ihre Situation – und Covid ist eine davon», sagt Maëlle Moret, Leiterin der französischsprachigen Abteilung von Arbeitsintegration Schweiz, dem nationalen Dachverband der sozialen und beruflichen Integration, gegenüber swissinfo.ch.

Es wird immer schwieriger, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen

Für manche ist Arbeitslosigkeit nur eine Phase, die mit der ersten Aufhellung am Arbeitsmarkt wieder enden wird. Aber: «Die Langzeit-Arbeitslosigkeit ist der letzte Indikator, der sich verbessert, wenn der Aufschwung kommt», sagt Professor Lalive.

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Menschen, die lange Zeit arbeitslos waren, immer seltener in den Beruf zurückkehren. Denn die Arbeitswelt verändert sich schnell, das Netzwerk schrumpft, das Selbstvertrauen schwindet.

Unternehmen mögen im Allgemeinen keine «nicht standardisierten Karrierewege», fügt Lalive hinzu. In dieser Hinsicht werden Personen, deren Qualifikationen nicht genau mit den Anforderungen der Stelle übereinstimmen, oder Personen, die trotz langjähriger Erfahrung arbeitslos sind, wahrscheinlich seltener zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Deshalb haben ältere Menschen die grössten Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden, wie in einer StudieExterner Link des Seco analysiert wurde.

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Schon vor der Krise war für Schopfer nicht nur sein Alter von 59 Jahren, sondern auch seine ursprüngliche Ausbildung ein Hindernis. «Die Leute weisen mich oft darauf hin, dass ich keine höhere Ausbildung habe», sagt er und fügt hinzu, dass ihm eine Weiterbildung verweigert wurde, weil sie sich in den Jahren bis zu seiner Pensionierung, nicht rechnen würde. Er habe auch manchmal das Gefühl, dass es zu teuer wäre, ihn für seine Erfahrung zu bezahlen.

Die wirtschaftliche Situation verkompliziert die Dinge weiter. Niedrig bezahlte und gering qualifizierte Jobs, die traditionell Wege zur Wiedereingliederung sind, «sind heute am schwierigsten zu finden, weil viele solche Stellen gestrichen wurden», bemerkt Benoît Gaillard, Mitverantwortlicher für Kommunikation und Kampagnen beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB).

Die Integrationsfachfrau Maëlle Moret weist zudem darauf hin, dass auch das Angebot an Unterstützungsmassnahmen für Arbeitssuchende wie Praktika und temporäre Stellen eher begrenzt sei.

Gefahr der Ausgrenzung

Wenn sie andauert, kann Arbeitslosigkeit schwerwiegende materielle und psychische Folgen haben. Auch steigt die Gefahr, dass die Betroffenen in der Sozialhilfe landen oder ausgegrenzt werden.

Der Gewerkschaftsbund befürchtet eine immer grössere Schere zwischen denen, die von der Krise nur wenig betroffen sind, und jenen, die lange ohne Stelle sind und entsprechend finanzielle Schwierigkeiten haben. «Gewisse Menschen könnten das schwere Stigma dieser Zeit für eine lange Zeit tragen», warnt Gaillard vom SGB.

Um das zu vermeiden, unterstützt der SGB neben anderen Massnahmen die Ausweitung der Arbeitslosenunterstützung. Bereits im März 2020 hatte die Bundesregierung beschlossen, bis zu 120 zusätzliche TaggelderExterner Link an Arbeitslose zu gewähren, um zu verhindern, dass Betroffene ihre Ansprüche verlieren. Das Parlament hat soeben eine weitere Verlängerung beschlossen.

Bei der zweiten Welle habe die Regierung zu lange gezögert, kritisiert der SGB. Er ist besorgt um diejenigen, deren Ansprüche demnächst auslaufen, «in einer Zeit, in der es noch illusorisch ist, auf Arbeit zu hoffen».

Das französische Parlament verabschiedete im Dezember ein Gesetz zur Verlängerung des Projekts «Zéro chômeur longue durée» («Null Langzeit-Arbeitslose»). Das Prinzip besteht darin, Arbeitslosengeld an Betriebe zu vergeben, die Langzeit-Arbeitslose für Aufgaben einstellen, die nicht durch bestehende Arbeitsplätze abgedeckt sind. Das Konzept hat auch in Belgien Interesse geweckt.

In der französischsprachigen SchweizExterner Link wurde das Projekt kürzlich ebenfalls lanciert. Der Verein, der das Projekt ins Leben gerufen hat, arbeitet mit der Fachhochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne (HETSL) zusammen. Gemeinsam wollen sie eine Plattform entwickeln, um Langzeit-Arbeitslose mit Unternehmen zu verbinden, die von ihren Fähigkeiten profitieren würden. Der Verein hat einen Zuschuss von der Bundesagentur für Innovationsförderung (Innosuisse) erhalten.

Eine ähnliche Jobsuch-Plattform wird auch im Kanton Neuenburg entwickelt. Den 7000 Arbeitssuchenden des Kantons steht ein Fragebogen zur Verfügung, der ihnen Anregungen geben und ihre Suche erweitern soll. So sollen ihre «Soft Skills» wie Stressresistenz und Teamfähigkeit besser berücksichtigt werden.

Eines haben beide Projekte gemeinsam: Sie glauben daran, dass es für jede und jeden Arbeit gibt.


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