Epidemie und Rassismus – eine merkwürdig aktuelle Kurzgeschichte Friedrich Dürrenmatts
Kürzlich erschien eine Kurzgeschichte des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt neu: Sie kann als literarische Prophezeiung für das Jahr 2020 gelesen werden. In ihr prallen eine Epidemie und Rassismus aufeinander.
In der Ära des Lockdowns suchten viele Orientierung in der Literatur. So erfuhr der Roman «La Peste» des französischen Nobelpreisträgers Albert Camus eine Neuentdeckung. Unter den Wiederentdeckten ist auch ein Schweizer: Friedrich Dürrenmatt. Seine neu herausgegebene Kurzgeschichte «Die Virusepidemie in Südafrika»Externer Link, die erstmals 1994, also posthum erschien, handelt von einer merkwürdigen Krankheit, die im Apartheid-Staat wütet.
Die ersten Betroffenen sind der Präsident Südafrikas und seine Frau: Sie erwachen am Morgen mit Erkältungssymptomen – und ihre Haut ist schwarz geworden. Der Präsident wird verhaftet, weil er sich als Präsident ausgibt, und ins Gefängnis gesteckt, um dort auf den Justizminister zu treffen – der ebenfalls schwarz geworden ist.
Sie können sich zwar erklären und das Gefängnis verlassen, doch die Epidemie greift um sich: Weisse Polizisten und Soldaten fangen an, auf weisse Polizisten und Soldaten zu schiessen, die schwarz geworden sind. Versuche, «schwarze Weisse» von «schwarzen Schwarzen» zu trennen, scheitern – die Apartheid zerfällt von innen, die Epidemie wird global.
Im Jahr 2020, in dem die Ausbreitung des Coronavirus parallel zu Antirassismus-Demonstrationen in den Vereinigten Staaten und der Ausbreitung ihres Funkens in alle Teile der Welt einherging, wirkt dieser Text 30 Jahre nach Dürrenmatts Tod merkwürdig prophetisch in seiner Verknüpfung der Themen Pandemie und Rassismus.
Warnung vor dem despotischen Staat
Auch Peter von Matt, Autor und emeritierter Professor für deutsche Literatur, erinnert die Kurzgeschichte an das Jahr 2020. «Eine Pandemie besteht ja nicht nur im Phänomen einer bestimmten Krankheit, sondern auch darin, dass durch jede Pandemie der Staat zu Handlungen gezwungen wird, welche die Freiheit der Menschen einengen. Dürrenmatt zeigt auch die groteske Situation auf, wenn solche Gesetze unverwirklichbar sind.»
Der Text ziele darauf ab, einen Staat anzuprangern, der über die Macht verfügt, seinen Bürgern ihre Freiheiten zu entziehen. «Es ist eine Studie des terroristischen Staats, eines Staats, welcher der Hälfte der Bevölkerung viel weniger Rechte zuspricht, einfach weil sie schwarz ist.» Doch Dürrenmatt zeige auch auf, was mit solchen Staaten geschehe: «Diese Absurdität führt dazu, dass dieser Staat sich zuletzt sozusagen selbst aufgeben muss.»
«Diese Absurdität führt dazu, dass dieser Staat sich zuletzt sozusagen selbst aufgeben muss.»
Peter von Matt
Samir Grace, ein ägyptisch-deutscher Journalist und Übersetzer, sieht in der Verknüpfung von Rassismus und der Ausbreitung der Epidemie eine letzte Prophezeiung Dürrenmatts. «Dürrenmatt ist der Dichter menschlicher Katastrophen, ein Vorbote des zerstörerischen globalen Wahnsinns.»
Dennoch sei Dürrenmatts Kurzgeschichte für ihn auch primär ein Produkt der 1990er-Jahre. Er betont: «Es gibt viele Unterschiede zwischen dem, was in der Geschichte passiert und dem, was wir heute erleben.» Denn das Coronavirus vertiefe primär die Unterschiede zwischen den Klassen und die Kluft zwischen Arm und Reich.
Epidemien und Rassismus
In der Geschichte befeuerten Epidemien den Rassismus oft. Während der Pestwelle in den Jahren 1348 bis 1353 und ihrer Ausbreitung in Europa wurden Juden beschuldigt, sie hätten sie durch Brunnenvergiftungen ausgelöst – was regelmässig zu Pogromen in jüdischen Vierteln führte. In den Vereinigten Staaten wurden im 19. Jahrhundert irische und italienische Einwanderer beschuldigt, Cholera und Polio zu verbreiten.
Mit der Verbreitung des Ebolavirus wurden dunkelhäutige Menschen in vielen Ländern der Welt anfälliger für Diskriminierung und Marginalisierung. Und 2020 waren Menschen asiatischer Herkunft rassistischen Angriffen ausgesetzt, da die ersten Fälle von Corona in China auftraten.
«Dürrenmatt ist der Dichter menschlicher Katastrophen, ein Vorbote des zerstörerischen globalen Wahnsinns.»
Samir Grace
Die Diskriminierung im Namen der Corona-Pandemie griff jedoch bald auch auf andere Randgruppen über. In der Slowakei, Rumänien und Bulgarien wurden militärische Massnahmen gegen Roma-Viertel oder -Städte ergriffen – oft auf der Grundlage der rassistischen Vorstellung, die Roma seien eine kollektive Bedrohung für Gesundheit und Sicherheit. In Indien traf die Marginalisierung speziell die Wanderarbeiter, die in Massen und schutzlos von ihren geschlossenen Arbeitsstätten in ihre weit entfernten Heimatdörfer flüchten mussten.
Solche Reaktionen sind Anzeichen dafür, dass Viren nicht nur die Immunität des Körpers beeinträchtigen, sondern auch den Zusammenhalt der Gesellschaft. In jüngster Zeit haben viele Statistiken gezeigt, dass die armen und sozial marginalisierten Gruppen am stärksten von der Krankheit betroffen sind.
So erklärte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres: «Die Auswirkungen des Virus zielen auf arme Arbeitnehmende, Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderungen und andere marginalisierte Gruppen ab.»
Dürrenmatts Text ist keine Prophezeiung: Dass er noch immer aktuell ist, liegt daran, dass er vielmehr eine Erinnerung an soziale Phänomene ist, die sich zuverlässig wiederholen.
Balz Rigendinger
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