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Corona-Krise macht hohen sozialen Stellenwert der Grosseltern sichtbar

Grossmutter erzählt Geschichten
Ein Bild aus Zeiten vor der Corona-Krise: Eine Grossmutter in Daillens (Kanton Waadt) erzählt ihren Enkeln eine Geschichte. © Keystone / Gaetan Bally

Grosseltern dürften ihre Enkel wieder in den Arm nehmen, aber weiterhin nicht hüten, sagte der Schweizer Corona-Krisenmanager Daniel Koch. Die Aussage ging um die Welt und verunsicherte Grosseltern in der Schweiz. Deren sozialer Stellenwert wurde in der Corona-Krise besonders sichtbar.

Die amtliche Erlaubnis für das Umarmen der Enkel hat Heidi Klossner Biglen (62) aus dem Kanton Bern sehr gefreut. Normalerweise hütet sie mit ihrem Mann alle zwei Wochen für einen Tag die Enkelkinder. Nach zwei Monaten kam es erstmals wieder zu einem Treffen – mit Freude und ein wenig Unsicherheit, da sich die Enkel gewohnt waren, Distanz einzuhalten.

Für Heidi Klossner Biglen ist die Zeit mit den Enkelkindern wichtig, um die Kinder Grosswerden zu sehen und ihnen Lebenserfahrung mitzugeben. «Wir lernen von ihnen und sie von uns», sagt Klossner Biglen.

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Auch für Barbara Müller* (63), die seit einer Woche ihren Enkel wieder hütet, war Daniel Kochs Aussage zum Umarmen der Enkel eine Art Befreiungsschlag.

Ein Magazin nur für Grosseltern

Das Heft «Grosseltern – Magazin über das Leben mit Enkelkindern » liefert seit 2014 Ideen, Tipps und Reportagen rund um das Zusammenleben der drei Generationen.

Laut Chefredaktorin Geraldine Capaul haben Grosseltern in der Schweiz eine gesellschaftliche Bedeutung, die über jene als Betreuungspersonen hinaus gehe – Stichwort Generationenvertrag. «Darunter versteht man einen fiktiven Solidaritätsvertrag zwischen den verschiedenen Generationen, der sich durch wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse auszeichnet.»

Diesen fiktiven Solidaritätsvertrag gebe es nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch innerhalb der ganzen Gesellschaft. Mit den Diskussionen rund um die nötigen Reformen der Altersvorsorge werde diese Solidarität immer wieder in Frage gestellt.   «Wir sind davon überzeugt, dass wenn wir mit unserem Magazin Verständnis zwischen den Generationen innerhalb der Familien schaffen können, so können wir auch mithelfen, die Solidarität innerhalb der Gesellschaft zu stärken.»

Von allein hätte sie mit dem Hüten gar nicht aufgehört, aber sie beugte sich dem sozialen Zwang. «Ich kenne viele Grosseltern und niemand von ihnen hütet noch, das wurde zum No-Go.» Beim Spazieren merkt sie, dass Grosseltern mit Kindern aus dem öffentlichen Raum verschwunden sind.

Die Corona-Krise macht den hohen sozialen Stellenwert der Grosseltern in der Schweiz sichtbar. Finanziell spielen sie eine wichtige Rolle: Der jährliche Wert unbezahlter Kinderbetreuung durch Grosseltern wird auf rund 8 Milliarden Franken geschätzt.

Umstrittene Empfehlung

Umarmen aber nicht hüten: Die Ansage des Schweizer Corona-Krisenmanagers Daniel Koch wurde von Medien weltweit aufgenommen und auch kritisiert.

Die Schweizer Behörden stützen sich unter anderem auf eine StudieExterner Link, gemäss derer vor allem kleine Kinder sehr wenige Andockstellen im Hals-Rachen-RaumExterner Link haben, über die das Virus in den Körper gelangen könnte. Kinder erkranken daher seltenExterner Link am neuen Coronavirus.

Koch wollte den leidenden Grosseltern und Enkelkindern Linderung verschaffen, wie das BAG auf Anfrage von swissinfo.ch bestätigt. Er nahm eine Abwägung zwischen Ansteckungsrisiko und psychischer Belastung der Grosseltern vor und kam zum Schluss, dass angesichts des Leidens der Grosseltern und des relativ geringen Ansteckungsrisikos Umarmungen vertretbar seien. «Es geht wirklich um eine kurze Umarmung, ein ‹Drücken'», sagt eine BAG-Sprecherin. Vom Hüten oder längeren Besuchen wird weiterhin abgeraten. Das ist nicht in allen Ländern so, die Empfehlungen variieren.

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Grosseltern vermissen die Kinder

«Wir hören seit Beginn der Pandemie Stimmen der Grosseltern, dass sie die Enkelkinder sehr vermissen», so Geraldine Capaul, Chefredaktorin vom Magazin «GrosselternExterner Link«, das Daniel Kochs Aussage erstmals in einem Interview publik machte. 

«Viele Grosseltern betreuen ihre Enkel normalerweise regelmässig ganze Tage. Mit diesem Einschnitt sehen sie diese plötzlich gar nicht mehr. Das tut weh.»

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Manche würden sich laut Capaul am liebsten über die vom Bund verhängten Massnahmen hinwegsetzen, mit dem Argument, dass sie mit der Endlichkeit des eigenen Lebens vor Augen nicht noch mehr Zeit ohne die Enkelkinder in Kauf nehmen möchten.

Ob sich die Grosseltern an das «Hüte-Verbot» halten, darüber verfügen die Schweizer Behörden über keine Informationen. Der Soziologe François Höpflinger sagt im Interview mit swissinfo.ch, die allermeisten Grosseltern hätten sich bisher an die Empfehlungen gehalten, da sie als vorübergehend wahrgenommen worden sei. «Aktuell – mit der Lockerung des ‚Lockdowns‘ – ist die Verunsicherung gross», so Höpflinger. «Kontaktverbote sind kurzfristig auszuhalten, stossen aber längerfristig auf Widerstand, vor allem bei gesunden und aktiven Grosseltern.»

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Laut Höpflinger haben sich in allen europäischen Ländern die Kontakte zwischen Grosseltern und Enkelkindern in den letzten Jahren verstärkt. Speziell für die Schweiz sei aber, dass deutlich weniger Grosseltern im gleichen Haushalt mit ihren Enkelkindern lebten als in anderen Ländern. 

In der wohlhabenden Schweiz mit einer vergleichsweise gute Altersvorsorge sind nur 1,1% aller Privathaushalte 3-Generationen-Haushalte. Zum Vergleich: In Japan sind es 5,7%, in China 16,5%. Das hat auch kulturelle Gründe: In der Schweiz war schon früher das Modell der Grossfamilie wenig verbreitet, und wie in anderen west- und nordeuropäischen Ländern kennt sie eine lange Tradition des getrennten Wohnens der familialen GenerationenExterner Link. Laut Höpflinger ist in der Schweiz getrenntes Wohnen, aber gute Beziehungen üblich, er spricht in diesem Zusammenhang vom «Prinzip von Intimität auf Abstand.»

Das ist einerseits eine schlechte Nachricht, denn die separat wohnenden Grosseltern in der Schweiz leiden jetzt natürlich unter der Trennung von den Enkeln. Es ist aber auch eine gute Nachricht, denn einer der Gründe, warum das Virus in Italien so viele Todesopfer forderte, liegt gemäss einer StudieExterner Link im Zusammenwohnen der Generationen und dem intensiven Kontakt zwischen Grosseltern und Enkeln.

Die Coronavirus-Krise hat aber auch die Schweizer Gesellschaft durchgeschüttelt. Sie hat gezeigt, wie wichtig familiäre Bindungen sind – und wie schlimm es ist, wenn man sich nicht sehen kann. Gut möglich also, dass die Generationen nach der Krise wieder enger zusammenrücken und solidarischer sind.

*Name der Redaktion bekannt

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